Begegnungen (Das Kleeblatt)
tausenddreihundertsiebzigsten Mal, Suses Drängen nachzugeben und mit ihr Weihnachten zu feiern. Drei volle Tage, die er in ihrer unmittelbaren Nähe verbringen würde, an denen er mit ihr in die Kirche und zum Weihnachtskonzert gehen und in aller Ruhe am Tisch sitzen würde und stundenlang die Mahlzeiten, ihre Gespräche, hauptsächlich jedoch Suses bloße Gegenwart genießen konnte. Drei Tage, an denen sie nichts anderes tun würden, als sich zu unterhalten, spazieren zu gehen oder sich in den Stunden, die Manuel nicht verschlief, mit ihm zu beschäftigen. Er würde sich nicht einmal in sein Arbeitszimmer zurückziehen können, wenn er sie nicht beleidigen wollte!
„Erzähl mir ein bisschen mehr von dieser blendenden Erscheinung von einem Mann, die mit mir am Frühst ückstisch sitzt und vor sich hin träumt.“
Er stieß einen verächtlichen Laut aus.
„Soll das heißen, du hast keine Träume? Kein bisschen Sinn für Romantik?“
„Wärst du etwas länger gefahren, hätte st du unter Garantie von den in der Reederei kursierenden Gerüchten gehört, dass ich nämlich keine Gefühle besitze. Weil ich kein Herz habe. Dass ich nicht an Liebe glaube, weil sie nichts als eine unbeständige Laune der Natur ist, der höchstens Narren erliegen.“
„ Ich gebe nicht viel auf Gerüchte. Was sagst du selber dazu?“
„ Ich halte Liebe für einen Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich mit der Realität herumzuschlagen, was für mich vor allem Verantwortung, harte Arbeit und Pflichtbewusstsein bedeutet.“
„Dein Leben kann nicht so trübselig sein , dass es sich lediglich auf deinen Beruf beschränkt. Es wäre wertlos ohne Liebe. Und ich bedaure jeden, der nicht den Mut findet, sich darauf einzulassen.“
„Dann hältst du mich also für einen Feigling?“
Er kniff die Augen zusammen, aber Suse bereute ihre Worte nicht. Wie konnte er so vermessen sein und sich über die Gefühle anderer erheben? Kein Wunder, dass er in dem Ruf stand, beherrscht und eiskalt zu sein. Sie musste herausfinden, was ihn so hatte werden lassen. Irgendwann in seiner Vergangenheit war etwas geschehen, das ihn so drastisch verändert hatte, denn kein Mensch wurde mit einer solchen Weltsicht geboren. Es musste etwas Verhängnisvolles, etwas Furchtbares gewesen sein, das seinen Charakter und seine Entschlossenheit derart geprägt hatte. Es schien, als sei er bis auf die Knochen entblößt worden, gezwungen, seine Charakterzüge abzulegen und neue, überlebenswichtige Fähigkeiten zu erlangen. Übrig geblieben war ein harter, purer Kern, unzerbrechlich und über jedes normale Maß hinaus belastbar. Dies war ein Mann, der eine Niederlage nicht hinnahm – er schien nicht einmal zu wissen, was eine Niederlage bedeutete.
Oder gehörte er tatsächlich zu den wenigen, die kein Bedürfnis nach Liebe verspür ten? Das wollte sie nicht glauben, denn sollte dies der Fall sein, tat er ihr noch mehr leid.
Als die Stille andauerte und unangenehm wurde, weckte Suse ihn sanft aus seinen Gedanken und ihre Stimme schien ihn zu streicheln: „Warum so schweigsam, Matt’n?“
„Über mich gibt es nicht s zu erzählen. Außerdem spricht man nicht mit vollem Mund“, schmatzte er zurück und schob sich hastig noch einen Bissen in den Rachen.
Also wartete sie eine geschlagene Minute, bis sie seinen Mund endlich leer wähnte. Dann beugte sie sich über den Tisch und sandte ihm einen treuherzigen Blick. „Und? Verrätst du mir jetzt, aus welch wunderlicher Gegend du stammst, in der es üblich ist, dass Eltern ihren Kindern Namen geben? Komm schon, ich weiß doch, welch begnadeter Redner du bist.“
Sie kaschierte ihre Verlegenheit hinter einem Hüsteln. „Streich das. Ich wollte sagen, du hörst dich bestimmt noch immer so gerne reden wie früher. Auch ohne Rhetorik-Kurs hast du’s einfach drauf, andere zu manipulieren. Erbmasse?“
„Verschone mich bitte mit diesen verstaubten Geschichten.“
„Bislang kenne ich nicht eine davon, Matthias Emanuel.“
Bissiger, als er eigentlich beabsichtigt hatte, knurrte er: „Die erste Geschichte dazu ist, dass ich Ossi diesen Namen ausgeprügelt habe, als er etwa … als wir noch Kinder waren. Und ich möchte genauso wenig, dass du mich so nennst.“
„Würdest du etwa eine kleine, hilflose Frau schlagen?“, entrüstete sie sich mit angstvoller Miene und kicherte gleich darauf bei der absurden Vorstellung, wie er über sie herfiel.
„Was soll diese Frage?
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