Begegnungen (Das Kleeblatt)
zu einem Albtraum, aus dem es vermutlich kein Erwachen geben würde. Denn der Kapitän enthüllte damit mehr über sich, als sie jemals hinter seiner makellos strahlenden und felsenharten Fassade vermutet hätte. Instinktiv rückte sie ein Stück von ihm ab. Nun, sie hatte unbedingt die Wahrheit hören wollen, sagte sie sich. Und die hatte sie bekommen. Abgeschossen aus zwei Läufen, mitten zwischen die Augen.
Sie hatte Clausing stets der Einfachheit halber als einen verantwortungslosen Ladykiller abgestempelt, der Frauen ganz nach Lust und Laune benutzte, ohne dabei aufrichtige Gefühle ins Spiel zu bringen. Er konnte es sich leisten, sah blendend aus und Geld war kein Thema für ihn. Doch es war viel komplizierter. Denn nun musste sie erkennen, dass sein ungezügeltes Leben nichts anderes als ein Ausdruck seiner Rache an allem Weiblichen war. Oder spiegelte es seine verzweifelte Suche nach wahrer Liebe wider? Er hatte unglaublich verletzt gewirkt in der Art, wie er seinen Ärger äußerte. Was verbarg sich hinter seinen heftigen Empfindungen?
Wenn er ihr Baby in den Armen wiegte und sich mit ihm in seiner drolligen Sprache unterhielt, benahm er sich beinahe verspielt, aber niemals jungenhaft, und er verlor auch nie den reifen, abgehärteten Blick, der deutlich machte, dass er mehr erlebt hatte, als sich normalerweise in einem Menschenleben unterbringen ließ.
„Einen zusätzlichen Esser empfand der sittenstrenge Herr als das geringere Übel im Vergleich zu dem Skandal, den sein Sohn in Gegenwart einer Frau unbeabsichtigt hätte auslösen können. Also brachte er Ossi in unser Haus.“
„Dein Vater hat dir einen Freund … gekauft?“
„So kann man es ausdrücken. Er schenkte mir einen ihm genehmen Spielkameraden und erkaufte sich damit mein Schweigen zu diesem peinlichen Vorfall.“
Der Gedanke bereitete Suse Übelkeit. Bereits als Kind war Adrian zum Spielball der Macht geworden. Konnte es da verwundern, wenn er nichts und niemandem trauen wollte, nachdem er seit frühester Kindheit derart missbraucht worden war? Und wie es aussah, war selbst Matthias ungeachtet der scheinbaren Sicherheit seines begüterten Elternhauses keineswegs zu beneiden.
„Und genauso hat er dem ahnungslosen Jungen seine Stellung in diesem herrschaftlichen Haus eingetrichtert. Ossi konnte also gar nicht erst auf die Idee kommen, in mir einen wahren Freund zu sehen.“
„Er hat Adrians Selbstwertgefühl auf dem Gewissen.“
Und Matthias zu einem harten Mann mit übersteigertem Selbstbewusstsein geformt, dessen Ehrgeiz ihn zu Höchstleistungen gebracht hatte – und aus ihm einen unnahbaren, einsamen Menschen machte. Suse nickte bedächtig, denn sie begann zu verstehen. Clausings Feindseligkeit gegenüber seinem Vater erschien nach diesen Offenbarungen in einem vollkommen anderen Licht.
„Hast du deinen Vater eigentlich jemals Vater genannt?“
Sie spürte, wie er erstarrte. Ah, sein Lieblingsthema. Zu spät wurde ihr bewusst, dass das wieder eine jener Fragen war, die man lieber gar nicht erst stellen sollte.
„Um Gottes willen, nein! So wenig übrigens, wie er mich als seinen Sohn bezeichnet hat. Für ihn war ich nichts anderes als der Erbe, kein Kind, dem man vielleicht ein wenig Beachtung oder gar Zuneigung schenken müsste. Er war der Ansicht, dass ich als der Stammhalter einer Familie schon in jungen Jahren auf meine Pflichten vorbereitet werden sollte. Und das bedeutete, dass mir nicht gestattet war, etwas Aufregendes zu tun oder mich irgendwelchen Vergnügungen und Träumereien hinzugeben. Ossi war sein größtes Zugeständnis an die Tatsache, dass ich ein Kind war und nicht ausschließlich mit Erwachsenen Umgang haben sollte. Er war ein eigenartiger Mensch, undurchschaubar, verschlossen, eiskalt. Ich nehme an, ich sollte ihm trotz allem dankbar für seine Art von Erziehung sein, da sie mir bei der Bewältigung all meiner beruflichen Aufgaben schon manches Mal von großem Nutzen war. Aber hin und wieder …“ Er hielt inne und ein weltverdrossener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
„Hin und wieder hättest du ganz gerne etwas Aufregendes unternommen, nicht wahr?“
„Ich muss wie ein verzogenes Kind klingen.“
„ Nein, Matt’n, eher wie ein Mann, der nie Kind sein durfte.“
Er stieß einen entnervten Seufzer aus. „Hören wir endlich auf damit. Es ist Weihnachten, das Fest der Familie und der Liebe. Der Alte war weder Familie für mich, noch hatte er Liebe für irgendjemanden übrig. Nicht einmal
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