Begegnungen (Das Kleeblatt)
Gesicht in den Händen. Sie schluchzte lautlos. Die Erinnerung an ihre ohnmächtige Starre und Fassungslosigkeit kehrte wieder und wieder in ihre Albträume zurück.
Sie hatte diesem Fremden genauso wenig helfen können wie wenige Wochen zuvor Alain. Genau wie Alain war auch diesem unbekannten Mann von seinem eigenen Vater Gewalt angetan worden. Und man hatte sie gezwungen, dabei zuzusehen. Nie wieder hatte sie sich derart hilflos und schwach gefühlt. Aber was hätte sie denn ausrichten können?
Der Marquess hatte sie an jenem Tag in sein beeindruckendes Herrenhaus eingeladen und ihr eines der Gästezimmer angeboten, in dem sie sich bis zum Dinner erfrischen konnte. Anschließend wollte er ihr alle Fragen beantworten und durch seine privaten Forschungslaboratorien führen, um ihre Zweifel an der Seriosität seines Unternehmens zu zerstreuen.
S ie dagegen hatte nicht so lange warten wollen. Ihre ungezügelte Neugierde trieb sie wieder hinab in das Foyer der herrschaftlichen Villa, wo sie zuvor eine nicht verschlossene Tür entdeckt hatte. Und tatsächlich kam sie unbemerkt bis in den hell erleuchteten Keller mit den edlen Marmorfliesen, den zahlreichen Duschen mit vergoldeten Armaturen und den Umkleidekabinen. Sie hatte sich keinen Reim auf den Sinn und Zweck dieser Räumlichkeiten machen können, viel mehr jedoch hatte sie sich über die eigenartige Stille gewundert, die dort unten herrschte. Eine Stille, die sich aus vielen Geräuschen zusammensetzte und sie plötzlich in Angst und Schrecken versetzte, ohne dass sie dafür einen Grund hätte nennen können. Sie wollte davor flüchten, ihre Füße indes trugen sie in die entgegengesetzte Richtung, vorbei an leer stehenden, fensterlosen Räumen.
Und dann sah sie ihn.
„Er lag auf dem nackten Boden. Sie hatten ihm alles genommen – die Freiheit, seine Würde, seinen Stolz, sogar seine Kleidung. Es war beinahe Winter, aber nicht einmal eine Decke haben sie ihm gelassen, damit er sich vor der Kälte schützen konnte. Seine Zähne haben so laut aufeinander geschlagen, dass er mich nicht kommen hörte. Sein Körper … nichts als Haut und Knochen. Selbst das bisschen Wasser und Brot zum Überleben war er ihnen nicht wert!“
Das Gefühl , völlig versagt zu haben, raubte Beate den Atem.
Sie hatte den Mann vorsichtig an der Schulter gefasst, ganz leicht nur, doch er hatte aufgeschrien, als hätte sie ihn geschlagen. Er zitterte nicht bloß vor Kälte. Der Fremde hatte Angst gehabt, eine panische Angst. Vor ihr? Vor ihrer Berührung? Sie hatte es sich nicht erklären können.
Jetzt freilich wusste sie es besser.
Ihre nervösen Finger knüllten ohne Unterlass den zerschlissenen Rocksaum. Sie zuckte zusammen, als sie Alains Hand auf ihrer spürte. Hastig ließ sie den Stoff los und verkrampfte ihre Finger ineinander.
Der misshandelte Mann hatte sich erst dann etwas beruhigt, nachdem sie ihren Mantel schützend über ihm ausgebreitet hatte. Sie hatte sich ihm gegenüber auf den Boden gekniet und dabei weder auf den Schmutz um sich herum noch den bestialischen Gestank geachtet. Er hatte sich von ihr abgewandt, nicht ein einziges Mal hatte er versucht, in ihre Augen zu schauen, so als würde er sich für seine Blöße und Schwäche schämen. Da hatte sie sich neben ihn gelegt und ihren Körper an seinen Rücken gepresst. Seine Haut war eiskalt und sie befürchtete beinahe, sie könnte ihm selbst mit einer leichten Berührung die hervorstehenden Knochen brechen.
Sollte sie Alain erzählen, wie sie all ihre Zurückhaltung vergessen und sich ganz darauf konzentriert hatte, Körperwärme zu erzeugen, um dem Fremden davon abzugeben? Sie hatte ihren Arm um ihn geschlungen und als er sie mit heiserer Stimme bat, ihn zu berühren, hatte sie auch das ohne Zögern getan. Wenigstens das hatte sie ihm geben können. Ein paar armselige Minuten des Vergessens.
„Ich habe ihm versprochen , zur Polizei zu gehen, damit sie ihn aus seinem Gefängnis herausholen. Ich wollte … ich habe ihm mein Wort gegeben. Aber …“
Sie hatte versucht, ihm zu helfen. Und einmal mehr versagt.
Erschöpft wischte sie sich mit dem Ärmel über ihr staubiges Gesicht, auf dem feine Schweißtröpfchen perlten.
Sie hatte dem Fremden zu trinken gegeben und seine zerschlagene Hand gehalten, während sie ihm von sich und der Welt da draußen erzählte. Er hatte nicht einmal mehr gewusst, welche Jahreszeit war, bis sie erfuhr, dass er vor mehr als zwei Jahren entführt worden war und seitdem in der
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