Begegnungen (Das Kleeblatt)
Dunkelheit dieser Hölle vegetierte.
Unvermittelt hatte er losgeschrien, nicht verängstigt wie bei ihrer ersten Berührung, sondern unbeherrscht und zornig brüllte er sie an. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf sie dieser Wutausbruch. Sie hatte ihn mit offenem Mund und aufgerissenen Augen angestarrt und kein einziges Wort verstanden, dermaßen verblüfft war sie gewesen.
Und so heiser und krächzend hatte seine Stimme geklungen. Er hatte seit zwei Jahren nicht mehr geredet.
Nur geschrien.
Viel zu langsam dämmerte ihr, dass es nicht Wut, sondern Sorge um ihre Sicherheit war, die ihn veranlasste, sie davonzujagen, sodass ihr ein leidenschaftlicher Protest im Hals steckenblieb. Sie wusste, er hatte Recht. Wie wollte sie unbemerkt dieses von unzähligen Videokameras überwachte Haus und das riesige Grundstück verlassen? Er würde kaum in der Lage sein, ohne Hilfe zu stehen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, unter diesen Umständen weit zu kommen. Aber sie konnte ihn nicht allein hier liegen lassen!
Er hatte ihr Zögern bemerkt und es letztendlich geschafft , sie zum Gehen zu überreden.
„Ich habe die Gründe für seine Angst erst begriffen, als ich mich zur Haus tür hinausschleichen wollte und einem der Gorillas des Marquess’ gegenüberstand. Ein brutaler Schlächter, der mir mit einem widerlichen Grinsen auf dem vernarbten Gesicht den Weg versperrte. Du hast ihn gestern gesehen, als wir essen waren.“ Sie schlug die Augen nieder.
„ ‚Unser Vögelchen will doch nicht etwa ausfliegen? Es wird unserem Gastgeber nicht gefallen, wenn er erfahren muss, dass sein goldener Käfig nicht gut genug für dich ist’, spottete er. Da wusste ich, dass ich verloren hatte. Sie würden mich nicht gehen lassen. Nie mehr. Nicht, nachdem ich mit ansehen musste, wie sie ihre Gäste“, sie malte Gänsefüßchen in die Luft, „behandeln.“
Blitzschnell hatte ihr der Bodyguard einen Arm auf den Rücken gedreht und mit der anderen Hand ihren Oberarm gepackt. Er machte sich seinen Spaß daraus, sie vor sich her zu stoßen. Die Mühe , ihr den Mund mit einem Klebestreifen zu verschließen, hätte er sich indes sparen können, da sie vor Entsetzen ohnehin keinen Ton über ihre Lippen gebracht hatte. Irgendwann band ihr der Gorilla die Hände auf dem Rücken zusammen und zerrte sie zurück in den Keller, aus dem sie sich kurz zuvor nach oben geschlichen hatte.
Ihr blieb das Herz stehen bei der grausigen Szenerie, die sich dort vor ihren Augen abspielte. Ein greller Scheinwerfer war auf die Zimmermitte gerichtet. Das Licht blendete sie, sodass sie nicht erkennen konnte, ob einer der Männer der Hausherr selber war, dieser ungemein freundliche und gut aussehende Marquess, der sie vor wenigen Minuten noch in sein Haus gebeten hatte, nett mit ihr plaudernd und freimütig ihre neugierigen Fragen beantwortend.
Sie rissen dem Gefangenen den wärmenden Mantel von seinem schlotternden Körper. Er lag auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen, die Arme darum geschlungen, um dem unaufhörlichen Zittern Herr zu werden. Doch brutale Hände rissen ihn auf die Beine, die ihn nicht mehr trugen. Er fiel auf die Knie und hob mit einer verzweifelten Geste seine Hände. Er flehte seine Peiniger an und bettelte um Gnade. Sie dagegen verhöhnten ihn bloß und traten nach ihm, ohne dass er ihnen auswich.
„Erst in diesem Moment ist mir klar geworden, dass seine Augen blind waren. Sie haben ihn an den Haaren auf die Füße gezogen. Er hat geschrien, unaufhörlich geschrien und sie immer wieder gebeten aufzuhören. Er hatte so lange Haare … lange Haare wie du, Alain. Vermutlich waren sie einmal genauso schwarz wie deine, aber die Jahre in Dunkelheit und Einsamkeit hatten ihn grau werden lassen wie einen alten Mann. Dabei war er kaum älter als du. Und die Narbe an seiner linken Seite passte genau zu deiner auf der rechten Seite. Alles hat mich daran erinnert … an dich und …“
Sie konnte nicht m ehr weitersprechen, so sehr schmerzte ihr Herz. Ihre Stimme ging in einem heftigen Schluchzen unter.
„Sie haben ihn mit dem Oberkörper auf d iesen Tisch … Er sah aus wie eine Spezialanfertigung, ausschließlich für diesen Zweck produziert. Sie haben seine Hände festgebunden und als sie anfingen, ihn zu schlagen, verstummte er plötzlich. Sein Stöhnen und Röcheln war das Letzte, was ich von ihm hörte, bevor sie mich … Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Oh Gott, vergib mir, dass ich ihm nicht geholfen habe. Er hat mir
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