Begegnungen (Das Kleeblatt)
ist, wenn sie ganz kurz sind. Sie sind sowieso …“
Was? Ausgefallen? Statt einer Antwort auf ihre Frage fand Beate ein Strichmännchen mit steil in die Höhe stehenden Haaren und einem grinsenden Gesicht.
Ihre Zähne gruben sich vor Verzweiflung in ihre Unterlippe. Sie hatte bereits bei seinem Aufenthalt in Gabun vermutet, dass es ein Hauttumor war, den sie an seinem Arm bemerkt hatte. Er musste es ebenfalls gewusst haben und war ungeachtet dessen das Risiko einer Ausbreitung des Krebses eingegangen. Ihretwegen. Statt in Frankreich zu bleiben und sich regelmäßigen Kontrollen bei seinen Ärzten zu unterziehen, hatte er eine Therapie so lange vor sich hergeschoben, bis er Cat und sie gefunden hatte.
„Alain lobt mich ganz oft, weil ich mich wie eine richtige Dame benehme . Dabei bin ich doch noch ein Mädchen.“
Beate schloss die Augen und konnte Katrins albernes Kichern hören, während Alain diese Worte für sie aufschrieb. Ein sanftes Lächeln umspielte ihren Mund.
„Wir haben nämlich echtes Eis in einem Café gegessen und ich habe mein neues Kleid nicht ein bisschen bekleckert.
Weißt du überhaupt, dass Alain immer mit der falschen Hand schreibt? Hoffentlich kannst du das lesen. Alain sagt „ja“ und er schwindelt bestimmt nicht.
Mit Julie gehe ich oft einkaufen. Sie ist sehr nett zu mir. Kennst du sie noch? Die hat schon mal bei euch gearbeitet, hat sie gesagt. Wir haben sogar eine Köchin, die ganz gut kocht – jeden Tag etwas anderes – und der ich dabei helfen darf, so wie ich dir immer geholfen habe. Ich bin schon sehr gewachsen, weil ich so viel esse. Deswegen bekomme ich immerzu neue Kleider und Blusen und Röcke und sogar Hosen. Am liebsten mag ich meine Söckchen. Die sind ganz weiß und haben einen Rand aus Spitze. Wenn ich auf der Wiese oder im Sandkasten spielen gehe, ziehe ich sie aus. Alain hat gesagt, ich darf sie anlassen und es macht nichts, wenn sie schmutzig werden. Trotzdem stecke ich sie schnell in meine Tasche, wenn er nicht hinsieht.“
Wie Recht sie hatte! Nicht einmal so etwas Banales wie Söckchen hatte sie bisher besessen. Es gab keine Blusen zum Wechseln, Röcke oder gar Hosen, abwechslungsreiches, gesundes Essen, Spielplätze, einfach nichts, was ab sofort in Paris für sie zum Alltag gehören würde.
Oder Eis! Grundgütiger, wie oft hatte sie sich selber nach einem leckeren, cremigen Eis gesehnt und dabei den Geschmack der schmelzenden Kühle auf der Zunge gehabt, den Duft heißen Kaffees in der Nase und die sympathische Hektik der Pariser Straßen im Ohr.
Sie nickte heftig. Ja, so weh es ihr noch immer tat, es war die einzig richtige Entscheidung gewesen, Cat mit Alain nach Frankreich zu schicken. Nach Hause.
„Bald komme ich in die Schule. Weil Alain oft ins Krankenhaus muss und er sich dann nicht um mich kümmern kann und weil Julie noch drei Kinder hat, darf ich in einem Internat wohnen. Alain hat mir die Schule gezeigt. Es ist sehr schön dort. Es gibt sogar echte Pferde zum Reiten. Und einen großen Sportsaal mit vielen Spiegeln, ein Haus ganz aus Glas, in dem Wasser ist wie in einem See und wo wir schwimmen lernen, und einen Spielplatz. Und große Zimmer gibt es auch für uns. Ich freue mich, dass meine Alicia mitkommen darf.
Manchmal sage ich ‚Papa’ zu Alain. Dann lacht er und freut sich darüber. Meistens sage ich aber ‚Alain‘, weil du ihn auch so nennst. Ab und zu habe ich Heimweh. Alain erzählt mir Geschichten von euch, wenn ich traurig bin, und da muss ich lachen, weil er so lustig ist. Ich habe ihn sehr, sehr lieb.“
Beate atmete erleichtert auf. Sie ließ den Brief in ihren Schoß sinken. Das habe ich auch, mein Engel. Ich liebe euch beide so sehr. Sie merkte, wie ihre Augen brannten und sich erneut mit Tränen füllten. Mit dem Handrücken wischte sie eine verirrte Träne von der Wange, bevor sie auf das Briefpapier tropfen und die Schrift verschmieren konnte.
„Komm bald nach Paris, maman ! Ich warte auf dich und schicke dir meinen Schutzengel, damit du dein Engelchen Cat nicht vergisst.“
Beat e schluchzte laut auf und ließ ihrem Kummer endlich freien Lauf. Es hatte doch keinen Sinn. Es zerriss ihr das Herz, so fern von Katrin und Alain zu sein, ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen, ohne jede Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.
„Bea, meine Süße, meine über alles geliebte Frau! Vielleicht wunderst du dich, dass dieser Brief den Umweg über die Botschaft nehmen musste. Es war die Idee eines Freundes, der sich für unsere
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