Begegnungen (Das Kleeblatt)
dass mir vermutlich gar keine Zeit bleibt, dich zu vermissen.“
Der Husten schüttelte ihn derart heftig, dass sich seine Schultern verkrampften. Beate legte ihm sanft die Hand auf den Rücken und spürte die Vibrationen seiner überanstrengten Muskeln.
„Komm mit, Bea“, flüsterte er, als er wieder zu Atem kam. „Lass mich nicht wieder allein.“
„Mach es uns nicht so schwer. Ich werde immer bei euch sein. Und vergiss nie, ich liebe dich.“
„Aber wenn ich jetzt gehe, dann … dann …“ Verzweifelt suchte er nach den passenden Worten. „Ich will dich nicht noch einmal verlieren“, schrie er seinen Schmerz und seine Angst aus sich heraus. Er schlug die Hände vors Gesicht und zitterte am ganzen Körper, bevor er schluchzend auf die Knie fiel.
Schweigend lagen sie sich in den Armen. Es gab nichts mehr, was ungesagt geblieben war. Die Schatten ihrer Vergangenheit hingen wie Spinnweben über ihrer Seele und machten die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zunichte. Und so konzentrierten sie ihre Sinne auf eine letzte Berührung des anderen.
„Ein Flugzeug wartet auch nicht auf eine dürre Bohnenstange wie dich. Geh endlich, du langmähniger Zottelschopf.“
M it einem kläglichen Lächeln zerrte sie ihn auf die Füße und schaffte mit ihrer ausgestreckten Hand einen Abstand zwischen sich und Alain.
Wortlos drehte er sich um und ging in Richtung Gangway, immer schneller, bis er fast rannte, als er seine Tochter erreichte. Katrin rückte dichter an ihn und schob verstohlen ihre winzige Hand zwischen seine Finger. Hatte sie bisher einen erstaunlich ruhigen und gefassten Eindruck vermittelt, fing ihr Herz angesichts des gewaltigen, stählernen Vogels auf der Rollbahn hektisch zu schlagen an. Sie fühlte sich noch kleiner und hilfloser, als sie es ohnehin war. Denn zu dem Wissen, ihre Mutter allein in der Hölle zurücklassen zu müssen, kam das auf ihren schmalen Schultern lastende Versprechen, von nun an auf ihren kranken Vater aufzupassen.
Sie drückte ihre Puppe fester an sich, während sie neben dem bleichen Mann die Gangway nach oben trippelte. Alain sah gar nicht richtig krank aus, fand sie. Er war noch immer so groß und stark wie an jenem Tag, als sie ihm zum ersten Mal in ihrem Dorf begegnet war. Aber ihre Mama hatte sie um ihre Hilfe gebeten und ihr gesagt, dass es ihm nicht gut ging. Die türkisfarbenen Augen des Mädchens hefteten sich auf ihren Vater.
Langsam wandte er seinen Kopf zu Seite und schaute Katrin fragend an. „Was ist, mein Engelchen?“
Seine Stimme klang eigenartig heiser. Auf halber Strecke blieb er stehen und keuchte angestrengt wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. Dabei waren sie die Stufen der Gangway ganz sicher nicht schnell emporgestiegen. Er bekam nicht genug Luft und atmete mehrmals tief ein.
„Wenn ich … w enn ich mich jetzt zu meiner maman umdrehe, wird sie dann weinen?“
Alains Kehle schnürte sich noch enger zusammen. Für einen Moment schloss er gequält die Augen. Auch er musste sich mit Gewalt zurückhalten, um nicht kehrtzumachen , Beate an sich zu ziehen und nie mehr loszulassen. Er hatte niemanden auf dem Flughafengelände gesehen, der sie daran gehindert hätte, mit ihnen gemeinsam in den Flieger zu steigen.
„Wir …“ Er hustete bellend, räusperte sich und begann noch einmal: „Wir werden uns nicht umdrehen, Cat. Wir müssen genauso tapfer sein, wie deine Mama es ist. Erst wenn wir auf unseren Plätzen im Flugzeug sitzen, werden wir aus dem Fenster sehen. Dann wollen wir ihr zum Abschied zuwinken. Bist du damit einverstanden?“
Er drückte Katrin an sich und umklammerte gleichzeitig das kleine , lederne Buch mit der anderen Hand wie einen Rettungsring. Beates Tagebuch.
„Da ist unser süßes Vögelchen also auf und davon. Das war nicht sehr brav, sie ohne gebührende Abschiedszeremonie gehen zu lassen. Wir hatten eine Überraschung für sie vorbereitet. Schade. Wirklich schade, dass ihr dieses Vergnügen entgangen ist. Sicherlich weißt du, was das für dich bedeutet.“
Sie muss te sich nicht umsehen, um zu wissen, wer sich hinter ihr aufgebaut hatte und voller Zorn gleich toben würde. Trotzig straffte sie die Schultern und hob den Kopf.
„ Ich habe euch gesagt, dass ihr sie nicht bekommt.“
Es war unverkennbar Stolz, der in Beates fester Stimme mitschwang. Sie hatte weder Alain noch den Fremden in der Villa von Stojan Stojkow vor den Erniedrigungen und Misshandlungen anderer beschützen können. Nie wieder würde ihr das
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