Begegnungen (Das Kleeblatt)
passieren.
Im ersten Moment war Beate sprachlos vor Überraschung, weil sie kaum glauben konnte, dass der Brief wirklich für sie bestimmt war. Ungeduldig wedelte der kleine Pater mit der Post vor ihrer Nase. Sie konnte die Handschrift auf dem Umschlag nicht erkennen. Immer wieder warf sie einen heimlichen Blick darauf. Wenn sie wenigstens den Absender lesen könnte!
Der Geistliche betrachtete sie voll Argwohn und Neugier, als er ihr den Brief reichte. Weil sie selbst dann noch keine Anstalten machte, die Post in seinem Beisein zu öffnen, beugte er sich weiter nach vorn, bis seine dicke Knollennase fast ihre Stirn berührte.
„Ist er von deinem süßen Töchterlein?“
„Das ist nicht sehr wahrscheinlich“, antwortete sie ausweichend und wich angewidert ein Stück zurück. „Er ist in der Hauptstadt abgestempelt.“
Was konnte es schon schaden, wenn sie Post von jemandem aus der Hauptstadt erhielt? Dass der Umschlag keinen Pass oder Geld enthielt, welche der Frau eine Flucht ermöglichen würden, war das Wichtigste. Auf etwas anderes hatte er nicht zu achten. Und lediglich dafür wurde er bezahlt.
Als sich die schwere Holztür hinter dem Pater geschlossen hatte und der Riegel nach unten krachte, ließ sich Beate mit dem Rücken an der Wand auf die Fersen sinken. Sie drückte den Brief an ihre bebende Brust. Noch einmal holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen. Die Ungeduld raubte ihr fast den Verstand. Mit fliegenden Fingern öffnete sie den Umschlag, strich behutsam über das Papier und ließ ihre Augen über die leicht nach links fliehende, gleichmäßige Schrift gleiten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen Brief von Alain erhalten zu haben.
„ Ma chère maman , ich will dir heute einen Brief schicken, der dich ganz froh machen soll. Weil ich noch nicht selber schreiben kann, muss Alain alles aufschreiben, was ich ihm sage. Er hat ein schönes Arbeitszimmer und ich sitze auf der Lehne von seinem Stuhl, der sich wie ein richtiges Karussell dreht. Jetzt muss ich aber still sitzen.
Du weißt doch, dass wir ga aanz lange mit dem Flugzeug geflogen sind. Es ist hoch bis über die Wolken geflogen und manchmal habe ich Flüsse und Berge gesehen und einmal sogar das Meer. Weißt du noch, wie das Meer aussieht? Es ist nämlich genau wie in dem Buch, das ich bei dir gelassen habe. Bloß Alain war …“
An dieser Stelle ging seine energische und vor Selbstbewusstsein strotzende Schrift in ein nicht zu identifizierendes Gekritzel über.
Beate schüttelte betrübt den Kopf. Dieser Schuft! Was hatte ihr Katrin mitteilen wollen, was ihr dagegen Alain lieber vorenthielt? Was wohl? Es ging ihm nicht gut. Als sie abgereist waren, lag seine Operation kaum eine Woche zurück. Dieser unbelehrbare Dickschädel hatte sich ja strikt weigern müssen, auf einer Krankentrage in das Flugzeug gebracht zu werden! Sein kritischer Gesundheitszustand kombiniert mit dem langen Flug und dem abrupten Klimawechsel hatte wohl kaum zu einer Stabilisierung beigetragen.
Sie wischte sich eine Träne von der Wange und zwang sich weiter zu lesen. Das ständige Grübeln brachte nichts.
„Das Haus, in dem wir wohnen, ist erst ein Hotel gewesen. Und jetzt leben wir in einem richtigen Schloss. Ich habe doch gewusst, dass Alain ein echter Prinz ist! Wie der in meinem Märchenbuch. Wenn du das Buch liest, kannst du immer an uns denken. Unser Schloss sieht ganz genauso aus.“
In Klammern hatte Alain eine Erklärung unter Katrins Beschreibung ge setzt. „Sei nicht enttäuscht, weil dich kein Märchenschloss, sondern ein ziemlich gewöhnliches Haus erwartet. Allerdings glaube ich, du hast nichts dagegen, wenn wir ein bisschen enger zusammenrücken.“
Oh, Alain, i ch könnte mit dir und Cat genauso in einem einzigen Zimmer glücklich sein!
„Ich habe schon viel gesehen in Paris. Das ist eine ganz große Stadt mit Millionen Autos und riesigen Häusern, die bis zum Himmel reichen. Es ist furchtbar laut hier. Und es gibt so viele Leute, dass ich nicht alleine auf die Straße darf. Erst war ich deswegen traurig, aber als ich Alain die Haare schneiden durfte, musste ich wieder lachen. Julie und Stéphane haben sich den Bauch gehalten, weil sie so lachen mussten. Alain hat auch eine neue Brille bekommen und sieht jetzt ganz anders aus. Du wirst ihn bestimmt nicht mehr erkennen.
Oh, du musst keinen Schreck bekommen, weil er immer noch sehr schön ist. Alain hat gesagt, seine Haare werden wieder wachsen und dass es nicht schlimm
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