Begegnungen (Das Kleeblatt)
verlieren.
Sie griff nach dem Stapel Post, den sie von der Flurgarderobe mit ins Wohnzimmer ge nommen hatte. Sie gähnte herzhaft, denn die Müdigkeit drohte sie nach dem starken Mädchen-Mörder-Kaffee endgültig umzuhauen, und blätterte lustlos den Haufen Briefe durch. Es war kaum anzunehmen, dass für sie etwas dabei war, weil noch niemand, abgesehen von ihrer Familie und Adrian, wusste, dass sie ab sofort wieder unter dieser Adresse zu erreichen war. Ein paar Weihnachtskarten sortierte sie aus und legte sie auf die rechte Seite. Den weitaus größeren Anteil machte das übliche für die Rundablage bestimmte Papier aus: Rechnungen, Werbung, Versicherungsangebote.
Plötzlich stutz te sie. Sie riss die Augen ein Stück weiter auf, bloß um sicherzugehen, nicht zu träumen. Mit spitzen Fingern fischte sie drei Briefe aus dem Stapel. Post, adressiert an – Nein! – Matthias Clausing!
Als hätte jemand einen Schalter in ihrem Hirn umgelegt, erschien vor ihr ein sehnsuchtsvoller Blick aus nachtblauen Augen. Speerspitzen, die auf sie gerichtet waren, um sie zu durchbohren. Ein Albtraum, der sie verfolgte. Oh nein, nicht schon wieder! Seine Augen!
Sie fletschte die Zähne und warf die Briefe auf den Tisch zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Wieso ließ sich diese Missgeburt seine Post hierher schicken? Hatte er bei ihrer letzten Begegnung nicht behauptet, keinen festen Wohnsitz zu haben? Damals hatte er während der Werftzeit in dem Hotel gelebt, in dem Adrian arbeitete. Sollte er tatsächlich die Wahrheit gesagt haben? Ach, der Arme!
Sie s chaute sich betont gelangweilt in ihrem Wohnzimmer um in der Hoffnung, ihre Gedanken abzulenken. Nicht einmal hier hatte sich etwas verändert – aseptische Ordnung, wohin sie blickte.
Up s! Mit einem Knall stellte sie ihre Kaffeetasse ab.
„ Oooh! Oh nein! Der hat ja wohl ’ne Meise!“, tobte sie und war bereits aus ihrem Sessel gesprungen, um im Siebenmeilenschritt zur Blumenbank unter dem Fenster zu stolpern. Ihr Stolz! Ihr Herzblut! Dieser gemeine Mörder! Suses Gesicht verzog sich angewidert, als sie mit zwei Fingern eine billige Pflanze aus Kunststoff in die Höhe hob, die sich inmitten ihrer sorgsam gehegten Lieblinge breitgemacht hatte. Also wirklich, auf was für Ideen Adrian manchmal kam! Vergeblich suchte sie dagegen nach dem Benjamin, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Und wo war der Weihnachtskaktus, der die seltene Gabe besaß, ebenfalls an Ostern zu blühen?
Kopfschüttelnd ließ sie das Gestrüpp auf den Tisch fallen und sank in ihren Sessel. Wenn er doch nur endlich käme! Für ihre Pflanzen gäbe es Ersatz. Die hatte sie in all den Monaten nicht eine Sekunde lang vermisst, sodass ihr Ableben schon morgen vergessen wäre.
Sie rieb sich erschöpft die Augen und griff erneut nach Clausings Post. Absender waren eine Krankenversicherung, deren Namen sie noch nie gehört hatte, die Reederei und …
Sie hielt den Umschlag dicht unter ihre Nase und schnupperte mit ange ekelter Miene. Da konnte einem ja schlecht werden! Ein anonymer Absender, dennoch eindeutig zu identifizieren. Wie geschmacklos! Aber haargenau das sah ihm ähnlich.
Sie schnaubte verächtlich und inspizierte die Umschläge, die ausnahmslos alle während der letzten beiden Tage abgestempelt waren. Der Brief mit ihrer Ankunftszeit war nicht darunter, also musste Adrian ihn erhalten haben.
Und warum – bitteschön – hatte er sie dann nicht abgeholt? Hätte er sich nicht einmal zur Begrüßung seiner Familie einen Tag frei nehmen können? Und selbst wenn es ihn nicht drängte, ihr selber wieder gegenüberzustehen, hatte sie wenigstens darauf gehofft, dass er ein kleines bisschen Interesse an seinem Sohn zeigte. Dass er seine Ankunft erwartete, bewiesen das Kinderzimmer, welches er mit offensichtlicher Liebe aus einer Sammelstelle für ungebügelte Wäsche in das Zimmer für seinen Stammhalter verwandelt hatte, und all die Kleinigkeiten, von denen sie befürchtet hatte, sie erst im Laufe der nächsten Tage mühsam zusammentragen zu müssen.
Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er auftauchte, dann würde er ihr eine Menge zu erklären haben.
Sie räkelte und streckte sich genüsslich. Susanne konnte sich nicht erinnern, in der zurückliegenden Zeit so tief und fest geschlafen zu haben. Erst hatte ihr Adrians eigenartiges Verhalten schlaflose Nächte bereitet. Dann machte ihr das Baby während der letzten Schwangerschaftswochen das Leben zur Hölle mit seinen
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