Beginenfeuer
denkst du, wie weit mein Einfluss reicht? Ich bin ein Mönch, ein einfaches Mitglied unserer Kirche und ein Mensch, der seinen Frieden im Glauben sucht. Hast du gedacht, ich könnte ein Wunder vollbringen?«
Ysée taumelte. Simon hob sie auf und brachte sie in das Haus seines Bruders.
Die Kaltblütigkeit des Großinquisitors, die berechnende Intriganz des Erzbischofs und die unterwürfige Frömmigkeit der Priester hatten ihn in seinem Glauben grundlegend erschüttert.
Ysée hörte auf die Stimme ihres Herzens. Alles in ihr stemmte sich aus reinem Gefühl gegen jede Ungerechtigkeit. Er fühlte sich ihr näher denn je, doch in der Stille des leeren Hauses konnte er ihr nur den Trost einer schweigenden Umarmung schenken. Als er ihr Zittern spürte, ihre Verwirrung, aber auch ihre zarte, verführerische Gestalt unter den Knabenkleidern, als sie ihren inneren Widerstand aufgab und den Kopf an seine Schulter legte, schob er ihre Kappe, ohne sich über das eigene Tun Rechenschaft abzulegen, nach hinten und schmiegte sich an sie.
Langsam beruhigte sie sich, und erst jetzt spürte sie seine körperliche Nähe, seine Wärme, die männliche Kraft. Seine Hingabe verriet ihr alle seine Empfindungen. Er suchte ebenso Zuflucht bei ihr wie sie bei ihm. Vielleicht konnten sie ja gemeinsam Frieden finden und die Schrecken der Vergangenheit vergessen?
Beide hatten aufgehört zu denken und fanden sich zu einem innigen Kuss.
M ATHIEU VON A NDRIEU
Paris, Rue des Ursins, 1. Juni 1310
Mathieu erstarrte beim Anblick des Paares. Er räusperte sich, weil ihn beide offensichtlich nicht bemerkt hatten. Erschrocken fuhren sie auseinander. Simon erschüttert, Ysée verlegen.
Mathieu gefiel es nicht, was er sah. Er musste zu allem einen Anflug von Eifersucht augenblicklich in seinem Herzen verschließen.
»Wäre es nicht besser, ihr würdet für derlei Zeitvertreib eine andere Kammer aufsuchen, wenn es schon sein muss?« Seine Stimme klang ungehalten. Simon tarnte sich mit Empörung.
»Habe ich dich nicht gebeten, sie von der Gasse fern zu halten? Um ein Haar hätte sie bei der Hinrichtung der Porète einen Skandal entfacht. Es war reiner Zufall, dass ich sie entdeckt habe, ehe sie den Wachen des Erzbischofs auffiel.«
»Ich habe mit eigener Hand ihre Kammertür verriegelt. Hätte ich sie auch noch in Ketten legen sollen?«, verteidigte sich Mathieu.
»Natürlich nicht, verzeih, aber es war gefährlich.« Simon ging in die Küche voraus und sank auf einen Hocker am Tisch. Am liebsten hätte er die Arme auf die Holzplatte gelegt, den Kopf darauf gebettet und Gott um die Gnade eines tiefen, traumlosen Schlafes gebeten. Er tadelte sich für die eigene Schwäche.
Er hätte Ysée nicht küssen dürfen. Er hatte Hoffnungen in ihr geweckt, die er nicht erfüllen durfte.
Mathieu sah, wie Ysée in den Augen seines Bruders las. Sie begriff, was in ihm vorging, und er sah ihre Enttäuschung. Er hätte sie ihr gerne erspart, aber das lag nicht in seiner Macht. Ysée löste ihren Blick von Simon, setzte sich aufrecht und wandte sich an Mathieu.
»Was ist das für eine Mutter Kirche? Eine Mutter, die ihre unschuldigen Kinder tötet!«
»Du bist ungerecht, Ysée. Marguerite Porète war bedauernswert, aber nicht unschuldig. Sie wusste, was sie riskierte, als sie ihren Thesen nicht abschwor. Sie hätte ihren Tod vermeiden können.«
»Welche Wahl hätte sie gehabt?«
»Buße, eine Klosterzelle.«
»Ich kann verstehen, dass sie die Freiheit des Todes der Gastfreundschaft der Kirche vorgezogen hat.«
Simon zuckte mit den Schultern. Er starrte Ysée an, seine Zuneigung hatte über Pflicht und Gehorsam gesiegt. Er würde alles für sie aufgeben.
»Was erwartest du von mir?«, fragte er, bereit, ihr jede Bitte zu erfüllen.
Eine Zeit lang sah es so aus, als würde Ysée nicht antworten. Dann holte sie tief Luft.
»Nichts erwarte ich von Euch, Bruder Simon. Gar nichts.«
»Bist du sicher?« Ysées Lachen klang wie Weinen.
»Wendet Euch an Euren Gott, Bruder Simon, wenn Ihr Verständnis und Liebe sucht. Ich kann Euch keine geben. Sie wurde auf dem Place de Grève verbrannt.«
B RUDER S IMON
Paris, Garten des Hôtel de Sens, 1. Juni 1310
»Wie geht es ihr?«
Mathieu warf seinem Bruder einen prüfenden Blick zu. Im sauberen Habit des Zisterziensermönches, die Wangen rasiert und das Haar frisch gekürzt, verkörperte er zum ersten Male, seit sie sich wiedergesehen hatten, ein geachtetes Mitglied des päpstlichen
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