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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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eigenen Bruder zu bespitzeln, durfte er nicht einfach abtun. Es bedeutete Gefahr. Ein Abgesandter Seiner Heiligkeit, den der Erzbischof von Sens lobte, dessen Ernennung der König vom Papst erzwungen hatte, würde ohne Verzug in ein einsames Kloster verbannt. Hatte Marigny das bei seiner Bedrohung bedacht, oder trübte sein neues Amt ihm den Blick für die Realität? Bis vor wenigen Wochen wäre das Kloster noch keine Strafe für ihn gewesen. Aber jetzt, nachdem er Ysée wiedergesehen hatte… Was sollte er tun? Er hatte den Schwur eines Mönchs getan und sehnte sich nach irdischer Liebe, und er war ein Gesandter des Papstes, der seinen Bruder verraten sollte. Ihm war klar, dass er es mit dem Leben bezahlen musste, aus welchem Grund auch immer er sich von der Kirche abwenden würde. Er suchte Zuflucht im Gebet.
    Als er sich im Morgengrauen von den Knien erhob, empfand er keine Erleichterung. Sein steifer Körper protestierte gegen die Buße, und seine Seele schmerzte vor Sehnsucht nach menschlicher Nähe.

D REIZEHNTES K APITEL
    Hinrichtung
     
     
     
    Y SÉE
    Paris, Rue des Ursins, 1. Juni 1310
     
    Die Kammertür ließ sich nicht öffnen. Ysée rüttelte ungeduldig am Griff und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Danach nahm sie Maß für einen kräftigen Stoß. Die Tür rührte sich nicht.
    Es gab nur eine Erklärung: Mathieu hatte sie eingesperrt! »Das darf nicht wahr sein!«, schrie sie. Wie konnte Mathieu ihr so etwas antun? Ihr ganzer Körper geriet in Rebellion. Sie trat gegen die Tür und schrie: »Lasst mich raus! Ich bin nicht Eure Gefangene! Ich habe nichts verbrochen!«
    Ihr Geschrei hallte durchs Haus, aber nichts geschah. Offensichtlich waren Waffenmeister und Herr gemeinsam unterwegs und hatten sie deshalb zur Vorsicht eingeschlossen. Weinend kauerte sie sich auf ihren Alkoven. Allmählich wurde sie ruhiger und zwang sich dazu, nachzudenken. Wie kam sie hier raus?
    Ihr blieb nur der Weg aus dem Fenster, vor dem der Apfelbaum stand, in dem der Star sein Nest gebaut hatte. Wenn es ihr gelang, über den Sims zu steigen und den nächsten starken Ast zu erreichen, ohne sich den Hals zu brechen, war sie frei. Das Risiko schreckte sie nicht ab. Was hatte sie zu verlieren? Ysée wechselte mit fliegenden Händen ihre Kleider. Wenig später schlenderte sie als Yvo, mit sich und der Welt zufrieden, auf Umwegen zum Domplatz.
    Es kam ihr vor, als herrsche weniger Trubel als sonst vor Notre-Dame. Auch die Zahl der Bettler und Kerzenverkäufer schien spärlicher, und die übrigen Händler, die dort Tag für Tag Bänder, Spangen, Pasteten oder Naschwerk verkauften, fehlten völlig. Von Renard und seinen Freunden fand sie keine Spur. »Wo sind sie nur alle?«
    »Wenn du die jungen Nichtsnutze suchst, mit denen du sonst hier herumlungerst«, krächzte eine Stimme, die ihre halblaut vor sich hin gemurmelte Frage gehört hatte, »dann musst du dich zum Place de Grève aufmachen, Bürschchen.« Ysée fasste den alten Bettler ins Auge, der zur Nische des Portals der heiligen Anna gehörte wie die steinernen Figuren darüber. Er überblickte den ganzen Platz vor der Kathedrale. »Was ist los auf dem Place de Grève?«
    »Das weißt du nicht? Sie verbrennen die Ketzerin. Gestern hat man sie für rückfällig erklärt und in aller Öffentlichkeit exkommuniziert. Heute soll ihre verderbte Seele in Rauch aufgehen. Ganz Paris ist auf den Beinen, um das Spektakel zu erleben. Wenn du dich beeilst, siehst du sie vielleicht noch sterben.«
    Die Gestalt des Bettlers verschwamm ihr vor den Augen. Die Ketzerin! Marguerite Porète!
    Wie betäubt tat Ysée die ersten Schritte. Dann wurde sie schneller, und am Ende rannte sie, so schnell die Füße sie trugen, zur Place de Grève, dem Strandplatz am rechten Seineufer. An normalen Tagen trafen sich dort die Männer, die keine Arbeit fanden. Renard hatte ihr erzählt, dass auch viele Volksfeste dort gefeiert wurden. Schon von weitem vernahm Ysée die erregten Laute der Menschenmenge, untermalt von düsterem Trommelklang. Die Stimme eines Priesters erhob sich über dem Raunen. Er forderte Marguerite ein letztes Mal zu Reue und Buße auf. Ysée verstand ihre Antwort nicht, aber das aufgeheizte Stöhnen der Schaulustigen verriet ihr Marguerite Porètes Verweigerung. Ysée ließ sich weder von Rempeleien noch von Flüchen aufhalten. Hartnäckig ließ sie sich im Gewühl weiterstoßen, bis sie schließlich den inneren Kreis erreichte, der den Scheiterhaufen umgab.
    Auf einem

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