Beginenfeuer
Die Haarnadel?
Sein Herz hämmerte. Würde ein Klosterbruder die richtigen Schlüsse daraus ziehen?
Z WANZIGSTES K APITEL
Ultimatum
V IOLANTE VON C OURTENAY
Vienne, Palast des Erzbischofs, 22. Oktober 1311
Eudora kauerte auf dem Sitz der breiten Fensternische und schlief. Den Kopf gegen die Mauer gelehnt, die Knie angezogen, glich sie einer dunklen Kugel.
Violante zog die Schuhe aus und schlich leise zu ihrem Bett. Nachdem sie sich lautlos entkleidet hatte, schlüpfte sie ebenso lautlos unter ihre Decke. Nur nicht mit jemandem reden müssen.
Noch spürte sie Simon auf ihrer Haut. Sie zog die Beine an und schlang die Arme um sich, als wolle sie in ihren eigenen Körper kriechen. In ihrem Kopf kreisten wirre Gedanken. So viel hatte sie in den letzten Jahren verdrängt. Jetzt kam es ihr wieder ins Gedächtnis zurück.
Die Flucht nach Brügge. Die Kindheit im Beginenhof. Die Schuldgefühle, die Berthe ihr vermittelt hatte. Wie oft hatte sie in Paris am Fenster gesessen und über ihre Mutter nachgedacht. Warum hatte sie sich einem fremden Mann hingegeben und riskiert, ein uneheliches Kind zu bekommen? Und ihr Vater? War er wirklich ein so gefühlloser, unberechenbarer Wüterich? Welche Umstände hatten ihn so werden lassen?
Ihr Großvater. Er war ein Ungeheuer. Wieder überfielen sie Abscheu und Ekel. Sie hatte sich nicht vorstellen können, sich jemals im Leben einem Manne hingeben zu können. Warum stiegen all diese Erinnerungen in ihr auf? Versuchte sie einen Grund für ihr Handeln zu finden? Eines wurde ihr klar: Zum ersten Mal hatte sie ihr Leben selbst bestimmt. Sie streckte die Beine aus, schlug die Decke zurück, legte sich auf den Rücken und machte die Augen auf. Sie war über Nacht eine erwachsene Frau geworden. Sie musste überlegen, wie es weitergehen sollte.
Dass sie nicht mit Simon leben, ihn nie mehr wieder fühlen konnte, war unvorstellbar für sie und ließ sie von Neuem mit Gott hadern. Warum war ihr ein solches Schicksal bestimmt? Warum quälte er sie so? Warum ließ er zu, dass die Kirche unschuldige Menschen verbrannte? Warum wurde Simon so viel abverlangt? Warum? Warum?
Sollte sie in die Kirche gehen und beten? Lieber Gott, du hast alles so gewollt, nun sieh zu, wie es weitergeht. Sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. So einfach konnte und wollte sie es sich nicht machen. Nichts von dem Geschehenen bereute sie. Diese eine Nacht mit Simon konnte ihr niemand mehr nehmen. Einmal im Leben war ihr ein besonderes Glück zuteil geworden.
»Gütige Mutter Gottes, wie könnt Ihr einfach im Bett liegen und schlafen? Ich bin fast umgekommen vor Sorge um Euch. Die ganze Nacht habe ich auf Euch gewartet.« Ein Rascheln ihres Strohsacks hatte Eudora nun doch aufgeschreckt. Violante wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. »Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch nicht täuscht, Schwester?«, fragte sie betont ruhig. »Als ich wiedergekommen bin, habt Ihr fest geschlafen.«
»Ich habe noch die Glocken für die Vigilien um eins gehört«, versuchte sie sich zu verteidigen. »Habt Ihr den Sekretär gesprochen?«
»Ja«, erwiderte Violante. »Aber bitte tut mir einen Gefallen und lasst mich noch schlafen. Ich fühle mich nicht wohl.« Eudora betrachtete sie nachdenklich und zog sich in eine Ecke zurück.
Eine aufgebrachte Stimme weckte sie viele Stunden später. Pater Étienne forderte energisch, mit ihr zu sprechen. Sie taumelte eilig auf die Beine, warf sich das Gewand über und stopfte die losen Haare flüchtig unter ihre Haube. Dann eilte sie zur Tür.
Der stechende Blick seiner Augen verhieß nichts Gutes. Trieb ihn ein Verdacht zu ihr? Wusste er von ihrer Nacht mit Simon? »Was führt Euch zu mir?«
»Ich habe dem Pater gesagt, dass Ihr Euch nicht gut fühlt und die halbe Nacht auf dem Abtritt verbracht habt«, warf Eudora schnell ein. »Ich hoffe, es gibt in diesem Palast eine Kräuterkammer, damit wir Eure Beschwerden behandeln können.« Violante war gerührt. Die rundliche Begine war nicht nur herzensgütig, sie war auch von schnellem Verstand. Pater Étienne betrachtete sie und fand, dass sie tatsächlich sehr blass war und dunkle Schatten ihre Augen umgaben. »Du bist krank? Ich werde dich unverzüglich zum Hospital der Domherren bringen.«
Erleichtert darüber, dass er offensichtlich nichts von ihrem nächtlichen Ausflug wusste, zwang sich Violante zu einer höflichen Antwort.
»Es sind nur lästige Krämpfe, die mich immer befallen, wenn ich unbekannte Nahrung zu mir
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