Beginenfeuer
Gaukelte ihm sein Kummer bereits Bilder vor, die außerhalb menschlichen Begreifens lagen? »Wer…« Seine Stimme versagte, und er musste sich räuspern, ehe er die Frage über die Lippen brachte. »Gütiger Himmel, wer seid Ihr?«
Ysée wich verunsichert eine Stufe zurück. Dass sie es mit Piet Cornelis zu tun hatte, sagten ihr die reich verzierte Kleidung und der taubeneigroße Rubin in den Falten seiner Kappe. Aber weshalb blickte er sie so seltsam an?
Katelin wunderte sich ebenfalls. »Das ist eine der Beginen, die bei der Herrin beten, Meister. Ist es Euch recht, wenn ich Jan schicke, den Priester zu holen?«
»Tu, was nötig ist«, winkte der Tuchhändler unwirsch ab, ohne die Augen von Ysée zu lassen. »Wie heißt du? Wo kommst du her? Warum bist du bei den Beginen? So rede doch, Mädchen!« Ysée wusste mit dem Verhör nichts anzufangen. Die schroffen Fragen weckten freilich Angst und tief vergrabene Erinnerungen. Plötzlich verspürte sie wieder das helle Entsetzen eines kleinen Mädchens, das um sein Leben fürchtete. Sie hörte die eindringlichen Worte von Berthe, die sie inzwischen ihre Mutter nannte: »Beantworte keine Fragen. Niemals. Sag, du weißt es nicht. Du musst das Geheimnis wahren, um jeden Preis. Wenn du uns verrätst, werden wir sterben.« Sosehr sie sich danach gesehnt hatte, den Beginenhof zu verlassen, in diesem Augenblick wäre sie gerne wieder in der vertrauten Sicherheit seiner Mauern gewesen. »Verzeiht, Herr. Man wartet auf mich.« Sie raffte ihr Gewand und floh so schnell die Treppe hinauf, dass sie völlig außer Atem geriet, bis sie in das Gemach der Hausherrin trat. Inzwischen hatte sie die Wandbehänge mit den Szenen aus dem Leben der Heiligen Familie, die geschnitzten Möbel und die Silbergerätschaften im Schauschrank lange genug bestaunt. Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit allein der Frau im Alkoven. Was nutzte ihr all der Reichtum? Sie konnte damit weder das Leben ihres Kindes erkaufen noch das eigene. Ysée spürte Alainas kritischen Blick. Die Begine kniete im komfortabel gepolsterten Betstuhl der Hausherrin und überließ es ihrer Schülerin, der Kranken den Schweiß von der Stirn zu wischen, Mareike zu stützen, wenn sie trinken wollte, und ihre unruhigen Hände zu halten, wenn sie im Fieber nach dem Kind tastete, das keine Kraft zum Leben gehabt hatte. Ein Kind wie Ysées kleiner Bruder, den die Mutter an ihrem Herzen geborgen hatte, als sie von ihr Abschied nehmen musste. Lieber Gott, ich will nicht daran denken. Es tut zu weh. Ich muss es vergessen. Der Mann und seine Fragen haben die Bilder zurückgebracht. Ich will sie nicht. Ysée biss sich auf die Unterlippe. Der Schmerz war Wirklichkeit. So wie der Tuchhändler, der eben in die Kammer trat und der Sterbenden ein geisterhaftes Lächeln entlockte. »Piet.«
Sie streckte ihm flehend die Hand entgegen. Doch Cornelis hatte nur Augen für Ysée auf der anderen Seite des Bettes. Ein bitterer Zug erschien auf dem Gesicht der Sterbenden. Sie wusste, warum die Tante ihr ausgerechnet dieses Mädchen ins Haus geschickt hatte. Es war eine Mahnung. Eine unmissverständliche Aufforderung, ihren Frieden mit Gott und den Menschen zu machen, solange ihr Zeit dafür blieb. »Wann kommt der Priester, Piet?«
»Wie…?« Sichtlich verwirrt kämpfte Piet Cornelis um Haltung. »Wozu brauchst du einen Priester, Frau? Du wirst wieder gesunden.«
»Dieses Mal nicht, Piet.«
»Was redest du?« Jetzt galt die Aufmerksamkeit des Hausherrn endlich ausschließlich der Kranken. »Wo bleibt dein Vertrauen in unseren Herrgott? Diese Frauen beten schließlich für dich.«
Mareike empfand unerwartetes Mitleid für ihren Mann. Sie erinnerte sich gut an seine verstorbene Tochter aus erster Ehe. Margarete Cornelis war das schönste Mädchen von Brügge gewesen. Mit Augen so grün wie die Frühlingsweiden am Ufer der Reie und einem Lachen wie Vogelzwitschern. Sie hatte die Wahl unter den besten Partien der Stadt gehabt, aber sie war von der Reise, auf die sie ihren Vater begleitet hatte, nicht mehr nach Hause gekommen. Angeblich hatte sie im Burgundischen einen Ritter geheiratet.
Als die Nachricht von ihrem Tod in Brügge eintraf, war Mareike bereits seit einem Jahr Cornelis’ Frau. Ihr Gemahl hatte seiner Trauer um die verlorene Tochter in unzähligen Seelenmessen und frommen Stiftungen für die Liebfrauenkirche Ausdruck verliehen. Dennoch hatte ihm der Himmel weder Vergessen noch einen Erben geschenkt.
Es musste ihm vorkommen, als sei
Weitere Kostenlose Bücher