Beginenfeuer
zurück. »Die Sünde liegt mir in dieser Stunde schwer auf dem Herzen. Wird mir im Himmel verziehen werden?«
»Jesus Christus ist für all unsere Sünden am Kreuz gestorben, meine Tochter.«
Pater Simon versuchte zu verbergen, wie sehr ihn dieses unerwartete Geständnis aufwühlte. Schleusen der Erinnerung öffneten sich auch in ihm. »Was soll ich tun, ehrwürdiger Vater?«
»Lege deinen Geist vertrauensvoll in die Hände des Allmächtigen«, riet der Mönch. Er fühlte sich überfordert, ihre Frage ad hoc zu beantworten. Er nahm Zuflucht zu den vertrauten Riten der Kirche, die in diesem schweren Augenblick nicht nur der armen Sünderin, sondern auch ihm selbst Trost und Stärke schenkten. Mareike Cornelis’ Lebenslicht verlosch unaufhaltsam.
»Jesus, der von den Toten auferstanden ist…«
Das Gemurmel Alainas summte durch den Raum. Sie betete den Rosenkranz für die Verstorbene, während Ysée und Katelin den Leichnam wuschen und für die Aufbahrung vorbereiteten. Erst wenn die Entseelte in ihren Feststaat gekleidet, mit fromm gefalteten Händen, von Kerzen umstellt, auf dem Totenbett lag, durften Gemahl und Gesinde, Verwandte und Freunde ihr die letzte Ehre erweisen.
Ysée begriff schaudernd, warum man den Trauernden den Anblick des leblosen Körpers in seiner nackten Erbärmlichkeit ersparte.
Sie schwankte zwischen Entsetzen und Mitleid. Sie musste für ihre Arbeit allen Mut und alles Mitgefühl aufbieten. Als die letzten Samtschlaufen des prächtigen Gewandes geschlossen waren, ließ sie einen prüfenden Blick über die Tote gleiten. Mit dem Ebenholzkreuz auf der Brust und dem Rosenkranz in den gefalteten Händen hatte sich Mareike Cornelis von der armen, bloßen Sünderin wieder in die wohlhabende Bürgerin verwandelt.
Ysée strich über die reichen Falten des Oberkleides und berührte bewundernd die goldbestickten Borten an den Ärmelkanten. Sie würde ihr Leben lang ungefärbte Wolle tragen und als Höhepunkt vielleicht den blauen Umhang der Beginen. »Was ist mit dem Kind, für das sie gestorben ist«, fragte sie leise. »Wird man es mit ihr begraben?«
»Aber nein.« Alaina schnaubte vor Entrüstung über eine solche Idee. »Es ist weit vor der Zeit zur Welt gekommen. Es hat keinen Atemzug getan und konnte deswegen auch nicht getauft werden. Es ist kein Christenmensch.« Ysée schluckte. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein kleines Geschöpfchen auf, leblos in Leinen gehüllt, aber von einem schützenden Mutterarm gehalten.
Was war wohl mit ihrem Bruder geschehen? Ob sie ihn mit Margarete zusammen begraben hatten? Oder waren alle im Feuer verbrannt? Warum hatte sie die Mutter fortgeschickt in ein Leben, das sie nicht wollte? »Träum nicht!« Alaina erkannte, dass Ysée mit ihren Gedanken meilenweit entfernt war. »Knie nieder, Schwester. Wir sind zur Totenwache und zum Gebet hier.« Ysée unterdrückte einen Seufzer. Die Magistra hatte ihr an der Seite der selbstherrlichen Begine eine harte Lehrzeit verordnet. Hatte sie durchschaut, dass nicht reine Frömmigkeit, sondern purer Eigennutz ihre Handlungen bestimmte? Dass sie sich nicht nach der ewigen Seligkeit, sondern nach der Anerkennung der Lebenden sehnte? Dass sie diese Seligkeit für eine Umarmung, ein freundliches Wort oder eine liebende Geste gern hingegeben hätte? Warum musste Frömmigkeit so streng, so kalt, so niederschmetternd einsam sein? Ysée murmelte gemeinsam mit Alaina einen der zahllosen Rosenkränze, als Katelin die Tür für den Herrn des Hauses und den Priester öffnete. Mit der durch die Beichte der Verstorbenen geschärften Wahrnehmung registrierte Bruder Simon, dass der erste Blick des Witwers nicht der Verstorbenen galt, sondern der jungen Begine.
Cornelis nahm den Tod seiner Gemahlin ohne jedes Aufbegehren hin. Ja, er hatte ganz offensichtlich bereits ein neues Objekt seiner Zuneigung entdeckt. Bruder Simon beherrschte seinen Zorn nur mit Mühe.
Er durfte kein Wort über die Beichte der armen Seele verlieren, obwohl alles in ihm forderte, die Wahrheit herauszuschreien. Was würde Piet Cornelis tun, wenn er vom Schicksal des Mädchens erfuhr? Violante von Courtenay aus dem Beginenhof holen und ihr Brügge zu Füßen legen? Den Betrug seiner verstorbenen Gemahlin dem Beginenhof zur Last legen? Genau dies würde jede gerechte Bewertung der Beginen vom Weingarten verhindern und in Avignon jene Partei stärken, die ohnehin daran interessiert war, die Selbstständigkeit der frommen Frauen zu beenden. Welch ein
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