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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Das ist nun wirklich nicht der geeignete Augenblick.
    Sie tauschten ein paar Banalitäten aus. Dann erklärte Cyrille:
    »Ich würde dir gerne eine etwas heikle Frage stellen.«
    Er sah sie herausfordernd und verführerisch an.
    »Eine schöne Lady wie du kann mich fragen, was sie will … die Antwort ist schon im Voraus ja.«
    »Also«, fuhr Cyrille fort, »erinnerst du dich an den Abend, an dem wir uns begegnet sind?«
    Youri nickte, und seine Augen nahmen einen belustigten Ausdruck an. Cyrille wurde immer nervöser.
    »Kannst du mir sagen, was wir an diesem Abend geschluckt haben. Ich meine, wir haben ja verschiedene Sachen genommen … Ehrlich gesagt, ich habe Gedächtnisprobleme, und ich fürchte, dass die daher kommen …«
    Youri lächelte breit.
    »Wenn du willst, machen wir es noch einmal.«
    Cyrille schloss die Augen, errötete und wiederholte ihre Frage.
    »Du musst es mir bitte sagen!«
    Der Estländer lehnte sich zurück und trank sein Bier direkt aus der Flasche.
    »Das ist schon lange her, wann war es noch?«
    »Oktober 2000.«
    »Wie soll ich mich an etwas erinnern, das zehn Jahre zurückliegt?«
    Cyrille massierte ihre Nasenwurzel.
    »Du hast doch sicher deine Kontakte hier …«
    Der Musiker überlegte, dann beugte er sich vor, damit nur sie ihn hören konnte.
    »Wir müssen zu dem Typen gehen, der uns versogt …«
    »Gut. Wann?«
    »Hast du morgen Abend Zeit?«
    »Ja.«
    »Ich hole dich um acht in deinem Hotel ab.«
    *
    Zurück im Hilton, schleuderte Cyrille ihre Schuhe ans andere Ende des Zimmers. Sie war wütend auf sich selbst. Sie hatte sich so idiotisch verhalten wie ein zehnjähriges Kind. Was hatte sie bloß an diesem Abend geschluckt? Ecstasy oder eine Partydroge? Kokain? Halluzinogene Pilze? Oder einen Cocktail aus verschiedenen Substanzen? Und er? Wie hatte sie mit ihm ins Bett gehen können? Er war attraktiv, okay, aber trotzdem … Sie vertrieb das Bild, das vor ihren Augen auftauchte, und seufzte tief. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie, die so vernünftig, rational und brav war …
    Sie setzte sich auf ihr Bett und zog ihr iPhone heraus. Sie hatte Ninos zweite Nachricht noch nicht gelesen und öffnete sie: ein Worddokument.
    Angesichts der aus mehreren Zeilen bestehenden Tabelle runzelte sie die Stirn:
    18/1973/12KU/30-40-60 NA positiv.
    15/1976/85MI/30-40-60 NA/VZ.
    21/1979/5699CB/30-40-60 NA/VZ.
    Es folgten drei ähnliche Einträge.
    Sie konnte nicht mehr denken. Ihr Kopf war so voll, dass er zu platzen drohte.
    Sie erhob sich, ging ins Bad, wusch sich die Hände und kämmte sich. Plötzlich keimte ein wenig beruhigender Verdacht in ihr auf. Die Tabelle …
    Cyrille lud sie erneut auf das Display ihres Handys und studierte die Zeilen eine nach der anderen. Bei der dritten begann sich ihr Herzschlag zu beschleunigen. Mein Gott, das ist doch nicht möglich.
    Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Wie erstarrt saß sie eine Weile da.
    *
    Cyrille lag auf dem Bett und weinte hemmungslos vor Fassungslosigkeit über das, was sie entdeckt hatte, und aus Verzweiflung, sich nicht daran erinnern zu können. Wegen eines Abends, eines einzigen Abends hatte sie etwas Unvorstellbares vergessen. Die Wahrheit war tief in ihrer Erinnerung verborgen und wollte nicht ans Licht kommen.
    Die Liste war nur eine informelle Notiz, eine Zusammenfassung der klinischen Versuche, die Manien in einem Word-Dokument festgehalten hatte. Laut Nino war 21 die Zimmernummer von Daumas, 1979 sein Geburtsjahr. »5699CB« war ein Kürzel, das ihr bestens vertraut war und das sie oft auf den Krankenblättern der Patienten vermerkt hatte, denn es war die Nummer ihres Badges in Sainte-Félicité, das sie zwei Jahre lang am Kittel getragen hatte … Der Rest war nicht schwer zu erklären. 30-40-60 war die Dosierung und »NA« vermutlich die Verabreichungsform, das heißt, nasale Applikation. »VZ« bedeutete … Vegetativer Zustand. All diese Elemente zusammen ergaben eine logische Schlussfolgerung. Sie nagte an ihrer Lippe und zitterte vor Wut auf die Medizin, auf Manien, auf Benoît und auf sich selbst. Sie hatte den Beweis vor Augen, dass sie nicht nur von Maniens heimlichen Versuchen gewusst, sondern auch aktiv daran teilgenommen hatte. Sie hatte Julien Daumas starke Meseratroldosen verabreicht, die ihn für eine gewisse Zeit in eine Art Koma versetzt hatten, ehe er in einem psychisch mehr als labilen Zustand wieder zu sich gekommen war …
    Cyrille spürte, dass ihr ganzer Körper schmerzte.

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