Begraben
Was immer er auch tat, er konnte das »Unvermeidbare« damit nur hinauszögern, letztlich aber trat es doch irgendwann ein. Wenn er zornig war, musste er seine Hände beschäftigen. Er fühlte sich angespannt, sein Puls raste, sein Kopf war tonnenschwer, und er glaubte, ersticken zu müssen. Manchmal hatte er den Eindruck, ohnmächtig zu werden; sein Blick trübte sich, seine Ohren summten, und in diesem Augenblick kam der Cutter oder das Taschenmesser zum Vorschein.
Seit zehn Jahren oder mehr versuchte er all das zu vergessen – das Verstümmeln von Tieren hatte ihn davor bewahrt, sich selbst zu verletzen. Der Anblick der Wunde, des hervorquellenden Bluts, der Klinge, die sich in die Haut bohrte und in das Fleisch eindrang, und vor allem das Geräusch, wenn sich die Augen aus den Höhlen lösten, allein das konnte ihm Ruhe geben – zwar nur vorübergehend, aber doch Ruhe. Es vermochte die Anspannung abzubauen und die unerklärliche Traurigkeit, die ihn beherrschte, zu mildern. Er trank seinen Kaffee aus und schwor sich, Lily nicht wehzutun. Aber das hatte er sich bei Marie-Jeanne auch gesagt … Er verscheuchte das Bild aus seinen Gedanken, bezahlte und stand auf.
*
Nachdem sie in ihrem neuen Zimmer ihren Koffer ausgepackt hatte, gönnte sich Cyrille eine Pause. Auf dem Bett ausgestreckt, einen Arm über den Augen, schlief sie ein. Als sie aus ihren merkwürdigen Träumen aufschreckte, war die Sonne schon untergegangen und beängstigende Schatten glitten über die Wände. Sie setzte sich im Halbdunkel auf, ihr Mund war ausgetrocknet, und ein Gefühl von Verlassenheit überkam sie.
Sie schleppte sich ins Badezimmer und duschte. Normalerweise spendete ihr das Wasser neue Energie, doch in diesem Fall war der Schlaf nicht erholsam gewesen, sie war völlig erschöpft. Sie wusste nicht, was sie mehr deprimierte, das Video, das ihr Anuwat gezeigt hatte, und der Blick der kleinen Dok Mai, ihr Scheitern bei Arom, die Tatsache, dass Julien Daumas sich irgendwo hier herumtrieb und sie suchte, oder die Antwort von Manien auf die gefälschte E-Mail von Benoît. Sie schlüpfte in eine leichte Hose und eine Bluse und band ihr Haar zusammen. Während sie unter der Dusche stand, hatte sie eine SMS von Nino bekommen. »Es gibt Neuigkeiten, ruf an, sobald du kannst.« Mit zitternden Fingern wählte sie über das Hoteltelefon die Nummer des Krankenpflegers.
»Hallo, hier ist Cyrille.«
»Endlich! Ich freue mich, deine Stimme zu hören«, rief Nino.
Cyrille lächelte.
»Und ich erst … Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Wie geht es dir?«
Cyrille hustete, seit dem Vormittag war so viel passiert. Sie fasste die Situation zusammen. Nino stieß einen Pfiff aus.
»Eine verrückte Geschichte …«
»Ja, und ich bin hierhergekommen, um meine Situation zu klären. Aber das ist voll danebengegangen. Sonst ist alles okay. Im Vergleich zu dem Schicksal der Straßenkinder ist meines geradezu beneidenswert. Das ist wirklich unvorstellbar … So, aber nun erzähl mal, was ihr herausgefunden habt?«
»Sitzt du?«
Sie machte es sich in einem Sessel bequem.
»Ja.«
»Halt dich fest: Manien hat Meseratrol an Patienten getestet!«
»Wie bitte?«
Nino las ihr vor, was Tony in Maniens altem PC gefunden hatte. Cyrille umklammerte die Armlehnen ihres Sessels. Das Meseratrol war in unglaublich hohen Dosen verabreicht worden, hundertmal stärker als das, was sie ihren Patienten verschrieb. Clara Marais, Julien Daumas und mindestens zwei andere Patienten waren dieser Rosskur unterzogen worden.
»Das ist ein Krimineller!«, rief Cyrille. Beängstigende Ideen rasten durch ihren Kopf wie ein Rennwagen ohne Bremsen.
»Das ist also das Programm 4GR14?«
Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Hände begannen zu zittern, ihr Gesicht rötete sich, und Schweißtropfen traten auf ihre Stirn. Manien hatte darauf geachtet, junge Testpersonen mit kräftigem Herzen auszuwählen. Die Betablocker verlangsamten den Herzrhythmus, in dieser Dosierung hatte das Meseratrol ihn fast zum Stillstand bringen müssen. Sie spürte, wie eine Hitzewelle sie erfasste. Ängstlich fragte sie sich, ob alle Probanden überlebt hatten.
»Jetzt verstehe ich, warum Daumas solche barbarischen Taten begeht! Man hat sein Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes zerstört!«
Und ich? Warum habe ich nichts davon gemerkt?
Sie erhob sich, lief im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich, das Gesicht in den Händen verborgen, auf das Bett.
»Cyrille, bist du
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