Begraben
noch da?«, fragte Nino beunruhigt.
»Ja«, stieß sie mühsam hervor.
»Ist dir nicht gut?«
»Ich möchte nur wissen, warum ich nichts von alldem gesehen habe. Dabei war ich doch da, und Julien war mein Patient.«
»Entweder hat man alles vor dir verborgen, oder du hast es vergessen.«
»Eben das beunruhigt mich ja so.«
»Denkst du dasselbe wie ich?«
Cyrille seufzte.
»Ja, vielleicht hat man mich genauso unter Drogen gesetzt wie die anderen. Das würde meine Amnesie erklären …«
»Ich schicke dir ein zweites Textdokument. Tony und ich haben kein Wort verstanden. Nur die erste Zahl, die auf das Zimmer des Patienten zu verweisen scheint. 21 war das Zimmer von Julien Daumas, 15 das von Clara Marais … Aber vielleicht hilft es dir ja weiter.«
Der Krankenpfleger machte eine Pause.
»Sag mal …«
»Ja?«
»Glaubst du, dass dein Mann … Also Tony und ich haben uns überlegt, dass er vielleicht von den klinischen Versuchen gewusst hat.«
Cyrille erstarrte.
»Nein, das ist unmöglich.«
Nino antwortete nicht. Cyrilles schroffer Ton überraschte ihn.
»Wann kommst du zurück?«, fragte er.
»Sobald der Kongress zu Ende ist. In einer Woche.«
Sie verabschiedeten sich und wünschten einander Glück. Cyrille legte auf. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie konnte kaum noch schlucken.
Ein akustisches Signal informierte sie, dass sie eine neue E-Mail bekommen hatte. Es war die zweite Datei, die ihre beiden Freunde auf Maniens PC gefunden hatten.
Sie hatte es nicht fertiggebracht, Nino die ganze Wahrheit zu sagen.
Auf ihre E-Mail, in der Benoît ihren ehemaligen Chef Rudolph Manien bezüglich der Entdeckung des 4GR14 durch seine Frau um Rat bat, hatte dieser geantwortet: »Ich rufe dich an.«
Cyrille hatte also erfahren, was sie wissen wollte. Benoît und Manien waren in Kontakt, und sie waren beide über die geheime Akte informiert. Benoît hatte sie auch in diesem Fall angelogen.
Sie war nicht sicher, das volle Ausmaß dieser grässlichen Entdeckung zu erfassen. Cyrille wollte gerade die neue Nachricht öffnen, hielt aber inne, weil es plötzlich an der Tür klopfte. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Sie erwartete niemanden und hatte auch nichts beim Room Service bestellt.
Sie rührt sich nicht vom Fleck und hielt die Luft an.
Erneutes Klopfen.
Langsam und mit wild pochendem Herzen erhob sie sich. Aus ihrem Waschbeutel nahm sie die Schere und schlich zur Tür. Sie legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Niemand.
Sie machte sie wieder zu, wich angsterfüllt zurück und schaltete das Licht aus.
Ein heller Schein drang vom Flur durch den unteren Türspalt. Sie setzte sich aufs Bett, unfähig, zu entscheiden, was sie tun sollte. Ich habe geträumt, niemand hat geklopft . Doch plötzlich wusste sie, dass sie sich etwas vormachte, denn der Schatten von zwei Füßen war deutlich zu erkennen.
Cyrille erhob sich und riss mit einem Ruck die Tür auf.
Sie starrte den Mann verwundert an.
»What are you doing here?«
Sein Akkordeon über der Schulter, stand Youri vor ihr.
»Guten Tag. Mein Freund im Buddy hat mir gesagt, du wärest umgezogen. Darf ich reinkommen?«
Cyrille zögerte kurz und erklärte dann:
»Nein, warte hier auf mich.«
Sie nahm ihre Tasche, die auf dem Bett lag, ihr iPhone und ihr Portemonnaie und trat auf den Gang.
»Gehen wir runter ins Café.«
*
Ohne zu wissen, wie spät es war, bestellte sie einen Milchkaffe und ein großes Stück Schokoladenkuchen mit knackiger Kruste. Youri nahm ein Bier.
»Ich habe dich nicht sofort erkannt mit diesen Haaren. Früher warst du blond, oder? Und dann war es zu spät, du warst schon weg. Dein Vorname ist … Cécile oder so ähnlich, stimmt’s?«
»Hm … Cyrille.«
Sie saß kerzengerade in ihrem Sessel und lächelte ihn verlegen und ein wenig verärgert an.
»Ich habe dich zufällig gesehen, als ich vorbeikam.«
Das erklärte zwar ihr Verschwinden nicht, aber egal. Sie hatte keine Zeit, sich mit solchen Details aufzuhalten. Da er schon mal hier war, würde sie ihm die Frage stellen, die sie quälte, und dann gehen.
Man brachte ihren Kaffee. Sie genoss die ersten Schlucke, aß ein wenig von dem Kuchen und entspannte sich. Youri hatte sich in dem Sessel ihr gegenüber zurückgelehnt. Ungewollt wanderte ihr Blick zu seinen langgliedrigen, kräftigen Musikerhänden. Youri entlockte seinem Instrument unglaubliche Töne, und auch im Bett waren diese Hände sehr kreativ gewesen. Sie blinzelte.
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