Begraben
und zu einer mäßigen Verminderung des koronaren Blutflusses führt.«
Nino setzte seine Lektüre fort: »… 1980 von Benoît Blake entdeckt, der die Wirksamkeit bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nachgewiesen hat. Für sein Gesamtwerk wurde Blake für den Nobelpreis 2010 nominiert.«
Nino zündete sich eine weitere Zigarette an und stieß den Rauch durch die Nase aus.
»Nun stell dir doch mal Folgendes vor: Im Jahr 2000 erfährt Manien von Blakes Versuchen mit Meseratrol an Mäusen und beschließt, das Molekül an Menschen zu testen, bevor er mit der offiziellen klinischen Erprobung beginnt, die jahrelangen Papierkram, die Zustimmung der Ethikkommission und eine Investition von mehreren Millionen Euro voraussetzt. Er verfügt über das nötige und geeignete Patientenpotenzial, Menschen, die keine Familie haben und suizidgefährdet sind. Bei eventuellen Komplikationen kann er den Tod leicht rechtfertigen. Aber er beginnt die Sache falsch, und der Versuch misslingt. Die Probanden überleben zwar, behalten aber geistige Schäden zurück.«
»Also vernichtet er die Beweise für seine illegalen Versuche«, fuhr Tony fort, »und betet, dass niemand seine Nase in diese Angelegenheit steckt.«
Nino nickte.
»Genau. Und diese Drecksau richtet es so ein, dass ich nichts mitbekomme, weil ich bei einer Fortbildung oder im Urlaub bin. Glaubst du etwa, das war Zufall? Dieser Verbrecher!«
»Meinst du, Blake wusste Bescheid?«
Nino pfiff durch die Zähne.
»Ich weiß es nicht. Manien hat sich das Zeug auch in Blakes Labor besorgen können, indem er zum Beispiel einen Studenten unter Druck gesetzt hat. Das ist kein Problem. Vielleicht hat er ihn aber auch ins Vertrauen gezogen.«
»Du glaubst, Blake wusste von Anfang an Bescheid?«
»Keine Ahnung.«
»Du wirst sagen, ich spinne, aber womöglich war Blake an den Versuchen beteiligt. Cyrille kommt ihm auf die Schliche, also verpasst er ihr ebenfalls eine Behandlung, um bestimmte kompromittierende Vorfälle aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Was hältst du davon?«
Nino lächelte.
»Du hast zu viele Krimis gesehen …«
*
Im Starbuck Coffee gegenüber vom Hilton bestellte Julien einen schwarzen Kaffee ohne Zucker. Er saß in einem Sessel mit Blick auf die Straße. Obwohl er Hunger hatte, brachte er keinen Bissen hinunter. Lily war dort oben. Er hatte den ganzen Nachmittag vor dem Buddy Lodge auf sie gewartet. Schließlich war sie gekommen und eilig in ihrem Zimmer verschwunden, um das Hotel zehn Minuten später mit einem Koffer in der Hand wieder zu verlassen. Er war ihr mit einem Taxi ins Zentrum gefolgt und wartete jetzt vor dem Hilton, dass sie sich zeigen würde. In seine Erinnerungen und Träume versunken, trank er seinen Kaffee. Seine Gedanken wanderten von einer Frau zur anderen: seine Mutter, Cyrille, Marie-Jeanne …
Alles, was er wollte, war, mit Cyrille zu reden; sie sollte ihm die Wahrheit sagen. In seiner Fototasche steckte der zusammengefaltete Zeitungsausschnitt, den er bei Marie-Jeanne gefunden und der ihn so erzürnt hatte. Cyrille schuldete ihm eine Erklärung. Er musste ruhig bleiben, was durchaus möglich war, wenn er weder Stress noch Angst ausgesetzt war. Seine Panikattacken lähmten ihn zunächst und versetzten ihn dann in rasende Wut. Er konnte nichts daran ändern. Wenn der Zorn in ihm aufstieg, brauchte er eine Farbe. Seine Hände mussten etwas Lebendiges packen und hineinschneiden. Er war nicht immer so gewesen. Die ersten Anfälle waren nach seiner Entlassung aus Sainte-Félicité aufgetreten. Anfangs, das musste er zugeben, hatte er sich nicht allzu schlecht gefühlt. Manchmal etwas eigenartig, aber froh, am Leben zu sein und bereit für einen Neuanfang. Und dann, eines Tages, hatte er sich sehr über eine Kleinigkeit geärgert, eine Fotoagentur, die seine Bilder ohne seine Zustimmung verkauft hatte. Eine gängige Praxis, die ihn aber aufgeregt hatte. Warum? Er konnte es nicht sagen. Etwas in ihm war anders, etwas, das er nicht analysieren konnte. Er wusste, dass es nicht weiter schlimm war, hatte jedoch das Gefühl gehabt, innerlich platzen zu müssen. Nichts hatte ihn zu beruhigen vermocht, außer der Rasierklinge in seiner Hand. Seither war Blut das einzige Mittel, um seine Angstzustände und die innere Gewalttätigkeit aufzulösen.
Er hatte alles Mögliche versucht, um damit aufzuhören, Entspannungstechniken, schnelles Laufen, heiße Bäder oder kalte Duschen, Eiswürfel in der Hand schmelzen lassen.
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