Begraben
Sie war verantwortlich für die Krankheit ihres Patienten. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich mit der Situation zu konfrontieren und zu überlegen, welche Möglichkeiten ihr jetzt noch blieben. Es waren nicht viele. Sie sprang auf, nahm ihre Tasche und verließ das Hotelzimmer.
39
Um neun Uhr abends klingelte Cyrille erneut an Sanouk Aroms Tür. Im Salon des Professors kündete ein bläuliches Blinklicht einen unerwarteten Besucher an. Kurz darauf stand Cyrille einer alten Thailänderin gegenüber, die bei ihrem Anblick alles andere als begeistert schien. Cyrille stellte sich vor, entschuldigte sich und bat darum, Professor Arom sprechen zu dürfen, es sei dringend. Und diesmal ließ sie sich die Tür nicht vor der Nase zuschlagen. Sie folgte der Frau durch den dunklen Gang mit den lackierten Wänden. Zu ihrer Linken war ein Wohn-Arbeitszimmer, das nur von einer einzigen Lampe erhellt wurde. Das Erste, was Cyrille beim Eintreten bemerkte, war der intensive Haschischgeruch, dann das Glucksen einer Shisha, die auf einem niedrigen chinesischen Tisch stand. Und am Ende des Schlauchs, auf einem roten Kanapee, lag eine zusammengesackte Gestalt, die den Kopf hob. Sie erkannte das lange weiße Haar. Fest entschlossen, nun endlich den wahren Sachverhalt in Erfahrung zu bringen, trat sie näher.
»Professor?«
Arom setzte sich mühsam auf. Er schien etwas benommen zu sein und brauchte eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen. Schließlich deutete er auf einen Ledersessel ihm gegenüber. Cyrille setzte sich und legte die Hände auf die Knie.
»Sie waren bei der VGCD«, begann Arom mit belegter Stimme.
»So ist es …«
»Das hätten Sie nicht tun sollen.«
Sanouk Arom zog an seiner Wasserpfeife. Unbeeindruckt kam Cyrille direkt zur Sache.
»Wie haben Sie die Kinder behandelt, die man in Surat Thani gefunden hat?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich darüber nicht mit Ihnen sprechen kann.«
»Ich habe mit meinem Mann geredet, alles ist in Ordnung. Er wird Ihnen bei Ihrer Publikation keine Steine in den Weg legen. Sie können mir von Ihrem Protokoll erzählen.«
»Ich möchte auf keinen Fall Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung meiner letzten Arbeit bekommen. Sie wissen ganz genau, dass Ihr Mann innerhalb unserer kleinen Gemeinschaft sehr einflussreich ist.«
Cyrille räusperte sich.
»Er hat versprochen, nichts gegen Sie zu unternehmen, wenn ich bereit bin, nach Paris zurückzukehren und mich behandeln zu lassen. Ich habe gerade mit ihm telefoniert.«
Sie betonte jede Silbe.
»Ich brauche Ihr Behandlungsprotokoll, es ist dringend.«
»Ihr Mann wollte nicht, dass ich Kontakt mit Ihnen aufnehme, und ich denke, er hat seine Gründe dafür.«
Cyrille wechselte die Taktik. Sie beugte sich vor und raunte ihm zu:
»Sagen Sie, Professor, in welchem Krankheitsstadium sind Sie eigentlich, im siebten, im achten …?«
»Wovon sprechen Sie?«
»Von Alzheimer …«
»Aber wie … niemand …«
»Ihre blaue Zunge … Sie nehmen hoch dosiertes Metylenblau, nicht wahr?«
Aroms Gesicht verschloss sich.
»Das ist das einzige Medikament, das bei klinischen Tests gute Ergebnisse erzielt hat.«
»Ich weiß, sie sind letztes Jahr veröffentlicht worden. Und auch das Haschisch rauchen Sie, um die Auswirkungen der Erkrankung zu mildern, stimmt’s?«
Sanouk Arom antwortete nicht, doch Trauer trübte seinen Blick. Cyrille beharrte.
»In sechs Monaten oder einem Jahr sind Sie nicht mehr in der Lage, Ihre Arbeiten zu publizieren. Wenn Sie mir den neuesten Stand Ihres Protokolls verraten, helfe ich Ihnen dabei. Ich habe auch meinem Mann dabei geholfen, seine Forschungen trotz seines Handicaps zu veröffentlichen.«
Sanouk Aroms gesundes Auge blitzte interessiert auf.
»Sein Handicap?«
Cyrille hatte nichts zu verlieren, und es machte ihr nichts aus, ihren Mann zu verraten.
»Mein Mann leidet seit einem Schädeltrauma im Jahr 2000, bei dem er sich eine Läsion des Temporallappens zugezogen hat, an einer seltenen Form der Dyslexie. Er kann nicht mehr richtig schreiben. Außer mir weiß niemand davon. Und ohne mich hätte er seine Forschungen nie veröffentlichen können.«
Cyrille schwieg und wartete ab. Sie hatte Benoît Blakes Bild ernsthaft angekratzt und Arom ein Druckmittel in die Hand gegeben, falls er Schwierigkeiten mit dem künftigen Nobelpreisträger bekommen sollte. Der Professor sagte nichts, seine Züge aber entspannten sich. Cyrille triumphierte innerlich.
»Also, Professor, wie
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