Begraben
bereute ihre Entscheidung bereits. Was würde sie tun, wenn Julien Daumas erneut einen Anfall bekäme? Wenn er unkontrollierbar und gefährlich würde? Ihre einzigen Waffen – sofern man diese als solche bezeichnen konnte – waren die Medikamente, die sie dank ihres internationalen Arztausweises in einer Apotheke im Stadtzentrum kaufen konnte. Zusammen mit ein paar Kleidungsstücken und ihrem Kulturbeutel hatte sie die weiße Tüte in ihrer kleinen Reisetasche verstaut.
Sie ließ den Blick durch die große erleuchtete Halle schweifen. Der Marmorboden war mit hübschen geometrischen Mustern gestaltet, darauf rote Plastiksessel. Cyrille hatte den Eindruck, dies alles zum letzten Mal zu sehen. Sie zwang sich, positiv zu denken. Sie entzifferte die Anzeigetafel mit den Abfahrtzeiten, die von zwei Porträts des thailändischen Königspaars in Prunkgewändern gerahmt war.
Nachdem sie festgestellt hatte, wo der Nachtzug abfuhr, lief sie, sich immer wieder ängstlich umschauend, Richtung Bahnsteig. Im Gehen wählte sie die Nummer des VGCD-Heims von Surat Thani, die Anuwat ihr gegeben hatte. Sofort hob eine freundliche junge Frau ab.
»Guten Tag, Madame, ich bin Doktor Blake. Professor Arom hat mich beauftragt, Dok Mai abzuholen.«
»Ja, guten Tag Doktor Blake, ich bin Katy, die Leiterin des Zentrums. Freut mich sehr, von Ihnen zu hören. Anuwat hat mich angerufen und mir erklärt, dass Sie morgen früh ankommen. Wir holen Sie vom Bahnhof ab.«
Die Stimme klang dynamisch und sympathisch. Katy wünschte Cyrille eine gute Reise und legte auf.
Eine halbe Stunde später ging Cyrille auf der Suche nach Wagen acht am Zug entlang. Im Reisebüro hatte man ihr erklärt, es sei ein Schlafwagen erster Klasse, nur für ausländische Reisende. Sie hatte sich noch ein Hühnchen-Sandwich, ein Stück Gebäck und eine Flasche Wasser gekauft, um bis zum nächsten Tag versorgt zu sein. Sobald Cyrille den Wagen erreicht hatte, stieg sie die Metallstufen hinauf. Es war das erste Mal, dass sie mit einem thailändischen Zug fuhr. Sie betrat den Wagen, der, im Gegensatz zu europäischen Zügen, keine Abteile besaß. Es war einfach ein langer Schlauch, und auf beiden Seiten des breiten Gangs waren doppelstöckige Liegeplätze aneinandergereiht, vor die man dicke, leuchtend blaue Vorhänge ziehen konnte. Die oberen Schlafstellen waren über eine kurze Metallleiter zu erreichen. Wie der Schlafsaal eines Raumschiffs. Sie seufzte. So hatte sie sich das eigentlich nicht vorgestellt. Keinerlei Intimsphäre, keine Sicherheit, und es roch nach Zwiebel und Fett. Laut Fahrkarte hatte sie die vorletzte Schlafstelle im Waggon, und zwar die untere. Immerhin war die Liegefläche breit und bequem, man hätte dort ohne weiteres zu zweit Platz gehabt. Sie stellte ihre Tasche ab und setzte sich etwas ratlos hin. Einige Touristen hatten sich bereits häuslich eingerichtet. Sie sprachen Deutsch und Englisch und hatten Bierflaschen in der Hand. Das konnte ja heiter werden! Plötzlich sah Cyrille Füße mit Flip-Flops, die, zwei Reihen von ihrem Platz entfernt, über eine der oberen Liegen hinausragten. Ihr Herz schlug schneller, sie erhob sich.
»Julien?«
Die Füße bewegten sich nicht.
Cyrille stieg auf die erste Sprosse der Leiter. Julien Daumas lag mit geschlossenen Augen, die Kopfhörer eines MP3-Players in den Ohren, auf seinem Bett ausgestreckt. Cyrille berührte ihn leicht an der Schulter. Der junge Mann zuckte zusammen und nahm seine Kopfhörer ab.
»Hallo!«
»Alles in Ordnung, Julien? Haben Sie Ihre Fahrkarte?«
»Ja.«
Seine Foto- und seine Reisetasche standen am Ende der Liege.
»Wir kommen um fünf Uhr dreißig in Surat Thani an. Es ist nicht die Endstation, deshalb stelle ich meinen Wecker. Wir gehen dann zur VGCD-Außenstelle, holen das kleine Mädchen ab und nehmen den Mittagszug, um morgen Abend zurück zu sein, okay?«
»In Ordnung«, antwortete Julien und nickte.
Cyrille sah ihn fest an.
»Haben Sie etwas zu essen dabei?«
»Ja, ich habe mir Fleischspieße, Kuchen und Cola gekauft. Und du?«
»Ich bin auch versorgt.«
Mit seinem Discman wirkte er auf sie plötzlich wie ein Junge.
»Julien …«
Der junge Mann richtete sich auf und saß mit baumelnden Beinen da.
»Ja?«
Cyrille zog aus ihrer Hosentasche eine Pillendose und öffnete sie.
»Nehmen Sie zwei davon.«
»Sind das Schlaftabletten?«
»Nein, das Mittel wird lediglich verhindern, dass Sie Angstanfälle bekommen.«
Zögernd nahm Julien die Tabletten. Cyrille
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