Begraben
den Gang entlangzusehen. Der Vorhang von Juliens Liege war zurückgezogen, der Platz leer.
Und plötzlich begriff sie ihren Fehler.
Sie hatte Julien nicht gebeten, die Zunge herauszustrecken, nachdem er die Tabletten genommen hatte, wie dies in Sainte-Félicité praktiziert wurde. Sie hatte es nicht gewagt, war vielmehr davon ausgegangen, sie habe genügend Autorität, dass er gehorchen würde. Sie hatte sich von seinem vernünftigen Verhalten einnehmen lassen, ein Irrtum.
Hinter seiner scheinbar arglosen und träumerischen Miene verbarg sich ein Krimineller. Wahrscheinlich spazierte er durch den Zug, ein Messer in der Hand, um Blut fließen zu sehen. Das einzige Mittel, seinen Schmerz zu besänftigen. Diese Vorstellung nahm in ihrem Kopf immer mehr Raum ein. Sie begann, vor Entsetzen zu zittern. Sie musste aufstehen und ihn suchen. Sie tastete nach ihrer Reisetasche, die unter ihrem Kopfkissen verborgen lag, und nahm ein verschweißtes Plastiktütchen mit drei Barbituratspritzen heraus. Sie musste sich jetzt erheben, aber sie starb beinahe vor Angst, und ihr Körper verweigerte den Gehorsam. Warum soll ich mich in die Höhle des Löwen stürzen? Sie ballte die Hände zu Fäusten, grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um sich Mut zu machen. Wenn er jemanden tötet, bin ich voll und ganz dafür verantwortlich. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte. Schließlich bewegten sich ihre Füße und stießen gegen etwas Hartes.
Sie erstarrte vor Schreck.
Sie war nicht allein auf der Liege.
Die Spritze in der Hand, drehte sie sich mit weit aufgerissenen Augen, Millimeter für Millimeter, langsam um. Julien lag neben ihr, ohne sie zu berühren. Er sah sie an, seine grauen Augen schimmerten im Dunkeln. Cyrille hob den Arm, um ihm die Spritze zu verpassen. Er packte sie am Handgelenk und hielt sie fest.
»Was hast du vor, Lily?«
Cyrille fühlte sich in einen Horrorfilm versetzt. Die Zeit war stehengeblieben. Julien musterte sie in der Dunkelheit und hielt noch immer ihre Hand mit der Spritze fest.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Cyrille verängstigt.
Julien nahm ihr vorsichtig die Spritze ab.
»Und was hattest du vor? Gib mir auch die anderen.«
Sie gehorchte und reichte ihm das Tütchen mit den Spritzen, die Julien unter seinem T-Shirt verschwinden ließ. Cyrille bekam vor Panik Schluckauf.
»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte sie.
Sie drehte sich ihm zu, sodass sie einander zugewandt dalagen.
»Ich möchte dich einfach nur beschützen.«
Cyrilles Brust hob und senkte sich, sie rang nach Luft.
»Sie haben das Medikament nicht genommen, das ich Ihnen gegeben habe.«
»Ich habe die Tabletten ausgespuckt. Ich hatte Angst, dir in der Nacht sonst nicht helfen zu können, wenn es ein Problem gäbe.«
Sie schwiegen. Der junge Mann wirkte aufrichtig. Vielleicht sagte er die Wahrheit, und es war unvernünftig, ihm zu widersprechen. Julien legte die Spritze auf dem Fensterbrett ab, wo die Klimaanlage ihre nach Altmetall riechende, kühle Luft ausstieß, und schaltete das Lämpchen über ihnen an. Es wurde plötzlich ein wenig wärmer, und Cyrille konnte besser atmen. Unerwartet strich Julien zärtlich über Cyrilles Wange.
»Wann wirst du endlich verstehen, dass ich dir nichts Böses will, Lily?«
»Nennen Sie mich nicht so!«
»Ist das nicht dein Kosename?«
»Woher wissen Sie das?«
Cyrille biss sich auf die Lippe, sah ihn an und wartete ängstlich auf seine Antwort.
»Du selbst hast es mir gesagt …«
Er hatte sehr ruhig gesprochen, als sei dies die natürlichste Sache der Welt.
»Wann? Wie? Julien, ich habe das noch nie jemandem erzählt …«
Zum ersten Mal lächelte Julien.
»Da fühle ich mich ja direkt geschmeichelt.«
»Wann habe ich Ihnen das gesagt?«
»In Sainte-Félicité, als ich dort Patient war.«
Cyrille nagte an ihrer Lippe.
»Was genau habe ich Ihnen gesagt?«
Julien drehte sich wieder auf den Rücken, einen Arm unter den Kopf geschoben. Cyrille hätte von der Liege springen und Alarm schlagen können, aber sie tat es nicht. Sie wurde von dem Abgrund angezogen, der sich zu ihren Füßen zu öffnen begann. Das Gesicht eines Patienten zu vergessen war bereits erschreckend. Aber sich nicht zu erinnern, dass sie ihm intime Dinge anvertraut hatte, das war dramatisch. Sie hatte damals eine persönliche Beziehung zu diesem jungen Mann aufgebaut, dessen Geisteszustand zerrüttet war. Irgendwo in ihrem Gehirn musste dies gespeichert sein, aber wo? Sie
Weitere Kostenlose Bücher