Begraben
betrachtete Juliens Profil, seine langen Wimpern. Sie wollte, dass er sprach, dass er schwieg. Sie wusste selbst nicht mehr, was sie wollte.
»Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Krankenhaus gekommen bin«, hob er mit sanfter Stimme an. »Ich muss in einem schlimmen Zustand gewesen sein. Meine erste Erinnerung von dort ist der Schlauch in meinem Hals und die eklige Flüssigkeit, die man mir eingeflößt hat, schwarz wie Erdöl, um mich mehrfach zum Erbrechen zu bringen. Und dann kamst du. Als ich die Augen öffnete, sah ich dich. Du warst sehr jung, unsicher, auch wenn du versucht hast, das zu verbergen.«
Julien lächelte, versunken in seine Erinnerung.
»Du hast zu mir gesagt: ›Guten Tag, ich bin Assistenzärztin und werde mich um Sie kümmern.‹ Und du hast das auf eine Art und Weise gesagt und mich dabei so offen, so freundlich angeschaut, dass ich mir wie die wichtigste Person auf der Welt vorkam. Ich hatte den Eindruck, du hättest außer mir keine weiteren Patienten und würdest dein gesamtes Wissen und Können für meine Heilung einsetzen. Wenn man sich überflüssig fühlt wie ein Stück Dreck, wenn niemand sich sorgt, wenn man nicht heimkommt, weil niemand einen erwartet, dann ist so ein Blick, der einen existieren lässt und einem das Leben rettet, wie ein Schluck Wasser für einen Verdurstenden in der Wüste.«
Cyrille blinzelte, ohne etwas zu sagen.
»Die anderen Ärzte, die ich gesehen habe, wenn du einmal keinen Dienst hattest, haben mich nie so angeschaut. Soll ich dir etwas sagen: Sie haben mich überhaupt nicht angesehen. Sie stürmten herein, um mich ein paar Dinge zu fragen und mein Patientenblatt auszufüllen. Sie wollten trotz meines depressiven Zustands Informationen von mir. Sie führten einen Wettlauf gegen die Uhr, sprachen sehr rasch und so laut, als wäre ich schwerhörig. Sie wollten nur, dass ich mich ihrem Rhythmus anpasste, obwohl ich doch so dringend eine Verschnaufpause brauchte. Gelegentlich kamen sie sogar zu mehreren und diskutierten über meinen Kopf hinweg über mich. Als wäre ich gar nicht da oder tot. Und wenn ich zu erfahren versuchte, was sie mit mir vorhatten, welche Therapie sie planten, um gegen meine Albträume und meine Angstattacken zu kämpfen, gaben sie vor, sich für das zu interessieren, was ich sagte, aber nur aus Höflichkeit und um möglichst schnell wieder gehen zu können.«
Cyrille schwieg noch immer. Julien wandte sich ihr wieder zu. Er hatte seit Langem nicht mehr so viel gesprochen.
»Deswegen wollte ich nur noch dich als Ärztin. Ich habe beschlossen, bei allen anderen zu schweigen.«
»Wirklich?«
»Du erinnerst dich tatsächlich an nichts mehr.«
Das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr hatte sich abgeschwächt. Cyrille legte den Kopf auf ihren angewinkelten Arm, schloss die Augen und öffnete sie wieder.
»Nein, an nichts.«
Während sie dies sagte, wurde ihr jedoch bewusst, dass sie log. Sie erinnerte sich nicht an Worte oder Sätze, die sie ausgetauscht hatten, und auch nicht an die Therapiesitzungen. Aber die Nähe zu Julien Daumas war ihr nicht fremd. Es war schwer zu definieren. Sie berührten sich nicht, doch sie spürte seinen Atem, sie nahm seinen Körpergeruch wahr, und es störte sie nicht. Sie hatte nicht das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Er war ihr fast vertraut.
»Und während dieser Sitzungen« – nahm sie den Faden wieder auf – »habe ich mich Ihnen also anvertraut?«
»Wir haben uns höchstens ein Dutzend Mal gesehen, aber es war jedes Mal sehr intensiv. Wir haben viel geredet, unser Kontakt war sehr eng. Während der letzten Sitzungen hast du mir ein paar deiner traurigen Geschichten erzählt.«
Cyrille runzelte die Stirn.
»Traurig?«
»Ja, von deiner Mutter, dem Internat, der Karriere als Musikerin, die du gerne gemacht hättest … von deinem Vater, der dich Lily nannte …«
Julien Daumas sprach sehr vorsichtig, als würde er spüren, wie sehr jedes seiner Worte sie verwirrte. Nun drehte sich Cyrille wieder auf den Rücken und legte ihre zitternde Hand über die Augen. Dieser Mann, der da neben ihr lag, war ihr näher gewesen als die wenigen Freunde, die sie heute hatte. Denn wenn es etwas gab, worüber die junge Frau nie sprach, dann war das ihre Kindheit.
Ihre Kindheit war kein Grund, stolz zu sein. Und sie hatte sie bis heute nicht ausreichend verarbeitet, um mit Gleichmut darüber reden zu können. Bei dem Wort »Internat« schoss ihr noch immer die Röte ins Gesicht, und wenn es um ihre
Weitere Kostenlose Bücher