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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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lächelte und wartete, bis er sie mit etwas Wasser geschluckt hatte.
    »Gute Nacht.«
    »Dir auch.«
    Voller Zweifel ging Cyrille zu ihrem Schlafplatz zurück. Das Medikament, das sie ihm verabreicht hatte, würde ihn für die kommenden sechs Stunden ruhigstellen. Es war eine Art chemische Zwangsjacke, die ihn daran hindern würde, aktiv zu werden. Aber danach, wenn sie erst einmal am Ziel waren? Sie würde ihn nicht den ganzen Tag unter Medikamente setzen können …
    Nicht alle Betten waren belegt. Eine Gruppe von drei Holländerinnen – Typ Hippie – unterhielt sich auf dem Gang, zwei junge Engländer versuchten, ihre Bekanntschaft zu machen.
    Sie setzte sich auf ihre Liege und zog den blauen Vorhang zu. Aus der Klimaanlage entlang dem Fenster strömte eisige Luft.
    Mehrere Pfiffe kündigten die bevorstehende Abfahrt des Zuges an. Sie schaute auf ihre Uhr und musste plötzlich an Youri denken. Er würde sie abends im Hilton erwarten. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn über ihre Abreise zu informieren.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie drehte den Kopf zum Fenster und sah die Gleise vorüberziehen, während sie an Tempo zulegten. Betonpfeiler, dann das graue und düstere Bahnhofsviertel, das von Minute zu Minute dunkler wurde. Sie dachte an Marie-Jeanne und wurde von Panik ergriffen. Nachts im Zug bekam sie immer Angst. In diesem Augenblick hätte sie alles dafür gegeben, die Sonne so schnell wieder aufgehen zu sehen, wie sie gerade verschwand. In Kürze würde die Dunkelheit sie umhüllen und isolieren, sie würde jeglichen Fixpunkt verlieren. Sie fühlte sich wie eine auf dem offenen Meer treibende Boje ohne sichere Befestigung.
    Sie glaubte, vorangekommen zu sein, wusste jedoch nicht, worin dieser Fortschritt bestand. Sie verstand das, was mit ihr geschehen war, nicht besser als vor ihrer Reise nach Thailand. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war nicht besonders ruhmreich. Vor zehn Jahren habe ich richtig großen Mist gebaut, und heute zahle ich dafür. Durch die Gedächtnisblockade hatte sie Maniens Experimente, an denen sie mitgewirkt hatte, vergessen. Wie hatte ausgerechnet sie, die während des Medizinstudiums den Beinamen »Ayatollah des Berufsethos« erhalten hatte, sich auf illegale Versuche einlassen können, die das Gehirn mehrerer Patienten geschädigt hatten? Es war einfach unbegreiflich. Hatte sie dieses Experiment, das sie missbilligt hatte, einfach verdrängt? Nein, dann hätte die Hypnose es wieder zutage gebracht. Das einzige Ergebnis dieser Hypnosesitzung war ihre große Wut auf Manien und … Arom.
    Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es tatsächlich der Mühe wert war, eine Vergangenheit ans Tageslicht zu befördern, die ihr verhasst sein würde. Der Zug fuhr plötzlich in einen Tunnel ein, und Cyrille wurde in Finsternis getaucht. Sie verspürte einen heftigen Druck auf den Ohren, und ihre Furcht nahm zu. Nein, Benoît hatte sie belogen, und er war im Unrecht. Nichts war schlimmer als die Ungewissheit.
    Sie atmete mehrmals bewusst ein und aus, um ihre innere Ruhe wiederzufinden. Dann beschloss sie zu schlafen, damit die Zeit schneller verginge. Sie aß die Hälfte ihres Sandwichs, das schwer bekömmlich war, und trank einige Schlucke des eisgekühlten Wassers. Die Reste packte sie in eine Plastiktüte. Anschließend breitete sie das Leintuch und die Decke auf ihrem Liegeplatz aus und schob ihre Reisetasche unter das Kissen. Es war noch früh, aber sie legte sich angezogen hin, schaltete das Lämpchen über ihrem Kopf ein und beschäftigte sich mit ihrem iPhone. Erneut las sie ihre SMS und die Dokumente, die Nino und Tony ihr geschickt hatten. Anschließend schaute sie sich noch einmal das Foto von Dok Mai an, die mit ihrem strahlenden Lächeln in die Kamera blickte. Sie gähnte. Der richtige Moment, das Licht zu löschen.
    Als sie die Lider wieder öffnete, war alles still und dunkel, der stampfende Rhythmus der Lokomotive erinnerte sie daran, wo sie war. Sie hatte geschlafen und sogar geträumt, dass sie im Untergeschoss eines verlassenen Krankenhauses herumgeisterte. Ihr Badge 5699CB, das an ihrem Kittel steckte, leuchtete im Neonlicht.
    Ihre Pupillen weiteten sich und versuchten, das Dunkel der Nacht zu durchdringen. Sie hob eine Ecke des Vorhangs, der Waggon war nur vom bläulichen Schein dreier Deckenlampen erleuchtet. Keine Bewegung, kein Geräusch, abgesehen vom Schnarchen einiger Schläfer. Irgendetwas hatte sie geweckt. Aber was? Sie richtete sich halb auf, um

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