Begraben
Daumas frei wie der Wind.
»Bring ihn ins Krankenhaus, bis ich dir mithilfe meiner Kontakte die Polizei schicken kann. Ich selbst nehme die nächste Maschine. Morgen Abend kann ich bei dir sein.«
Cyrilles Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, wie sie einen Mann von Juliens Statur ohne körperliche Gewalt oder eine Waffe zurückhalten sollte. Julien hatte sich umgedreht und starrte sie an. Vermutlich hatte er begriffen, dass sie über ihn sprach. Sie musste sich kurz fassen.
»Gut, ich tue alles, um ihn festzuhalten. Wir sehen uns morgen Abend in Bangkok im Hilton.«
*
»Marie-Jeanne, hier ist Cyrille. Ich habe gerade mit Benoît telefoniert, und er hat mir gesagt, was passiert ist. Ich bin noch völlig schockiert. Aber alles wird gut, ganz bestimmt. Du wirst geheilt. Und Julien wird verurteilt. Das verspreche ich dir. Ich drücke dich ganz fest, mein Mädchen. Ruf mich an, sobald du kannst.«
Cyrille legte auf und stützte sich auf eines der Porzellanwaschbecken in der Toilette der Wat Bar. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie spritzte kaltes Wasser in ihr Gesicht und trocknete es mit einem Papierhandtuch. Als sie die Toilette verließ, verbarg sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille. Julien Daumas nahm seine Ray-Ban ab. Selten hatte sie sich so schlecht gefühlt. Bislang hatte sie es mit Problemen zu tun gehabt, die sie selbst betrafen. Doch jetzt ging es um Marie-Jeanne. Marie-Jeanne lag im Krankenhaus, und ihr einziges Verbrechen war, dass sie sich in einen Geisteskranken verliebt hatte. Cyrille verfluchte sich. Sie war in doppelter Hinsicht schuldig. Sie hatte diesen jungen Mann in den Wahnsinn getrieben und war noch dazu nicht in der Lage gewesen, ihre Nichte vor ihm zu schützen. Sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte, war ihrer dunklen Vorahnung aber nicht weiter nachgegangen. Noch nie hatte sie ein so schlechtes Gewissen gehabt.
Es war Mittag. Langsam nahm sie an dem kleinen Tisch Platz. Sie bemerkte, dass Julien zwei Getränke bestellt hatte, die aussahen wie Granatapfelsaft. Sie musste dem Blick seiner stahlgrauen Augen standhalten. Dieser Dreckskerl hatte es gewagt, ihre Lieblingsnichte anzurühren. Sie spürte eine bisher unbekannte Wut in ihren Adern pulsieren. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, sich zu beherrschen. Du wirst bezahlen, du wirst für das bezahlen, was du ihr angetan hast, dafür werde ich sorgen . Langsam entspannten sich ihre Gesichtsmuskeln. Jetzt begann eine besondere Partie.
»Entschuldigen Sie, das war die Klinik. Ich musste einen schwierigen Fall aus der Ferne betreuen.«
Sie deutete auf das blutrote Getränk.
»Was ist das?«
»Hibiskussaft.«
»Ah ja!«
»Ich habe mir gesagt, das würde uns erfrischen.«
Julien hatte seine Sicherheit wiedergefunden. Cyrille aber verschanzte sich hinter feindseligem Schweigen und nickte nur.
Sie hob das Glas an die Lippen. Der Saft war süß. Tröstlich. Die junge Kellnerin brachte einen Teller mit kleinen Hähnchenspießen und Servietten. Sie wollte in die Offensive gehen, entspannt wirken. Dieser Typ war wirklich krank, und ihr Entschluss stand fest: Sie würde ihn einsperren lassen. Sie legte beide Hände um ihr Glas. Die Kälte beruhigte ihre Nerven.
Julien Daumas streckte seine Hand vor und wollte ihre Finger streicheln. Cyrille zog sie abrupt zurück.
»Und mit dir haben sie also dasselbe gemacht?«
»Wie dasselbe?«, fragte sie.
»Sie haben dein Gedächtnis ausgelöscht.«
Seine Stimme bebte. Cyrille zog die Augenbrauen hoch, versuchte aber, sich unbeteiligt zu geben. Sie trank einen Schluck Hibiskussaft. Julien Daumas ließ sich nicht einschüchtern.
»Das habe ich gewusst, seit ich dich in deiner Praxis wiedergetroffen habe. Deine Augen haben sich verändert. Früher hat man Landschaften in ihnen gesehen. Heute sind sie dunkel.«
Cyrille nahm ein Spießchen und knabberte an einem Stück Hühnerfleisch. Sie hatte keinen Hunger, doch das half ihr, Haltung zu bewahren und all ihren Mut zusammenzunehmen. Sie wiederholte in Gedanken den Satz, ehe sie ihn aussprach.
»Sie haben recht, ich habe eine Gedächtnisblockade. Und ich muss mich in Behandlung begeben, genau wie Sie.«
Julien Daumas lehnte sich zurück. Seine grauen Augen waren unverwandt auf sie gerichtet.
»Warum vertraust du dich mir plötzlich an?«
Cyrille räusperte sich und spielte mit dem Spießchen.
»Ich spreche mit Ihnen über meine Gedächtnisblockade, Julien, weil Sie dieselbe haben. Und ich denke, ich kenne die Lösung
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