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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Eltern ging, hätte sie manchmal weinen mögen. Was die Musik betraf: sie war ihr privatester Bereich. Hatte er ihr Vertrauen tatsächlich in einem Maße gewonnen, dass sie ihm dies alles enthüllt hatte? Genauso war er wohl bei Marie-Jeanne vorgegangen … Marie-Jeanne. Sie stellte sich ihre Nichte vor – zwei Verbände über den Augen –, und ihr wurde wieder bewusst, wozu Julien fähig war. Sie biss sich auf die Zunge, um ihn nicht darauf anzusprechen. Sie war nicht in der Position, ihn angreifen zu können. Der junge Mann war eine Zeitbombe und musste mit äußerster Vorsicht behandelt werden.
    Durch seinen Charme und seine ruhige Art hatte er das junge Mädchen betört, hatte sie in seinen Wahnsinn verstrickt. Mich wirst du nicht kriegen . Die plötzliche und heftige Wut, die sie empfand, gab ihr etwas von ihrer Kühnheit zurück.
    »Julien, wenn Sie wollen, dass ich Sie mitnehme, dann schlucken Sie diese Tablette und gehen Sie schlafen.«
    Der junge Mann war von dem plötzlichen Stimmungswechsel überrascht, widersprach jedoch nicht. Einige Augenblicke lang hatte er geglaubt, jene Cyrille wiederzufinden, die er gekannt und geliebt hatte, aber nun war sie erneut verschwunden. Er setzte sich auf.
    »Einverstanden.«

Paris, 19   Uhr
    Nino Paci hatte sich warm angezogen, um zum Abendessen auszugehen. Er rauchte in der Kälte auf dem Bürgersteig vor seiner Wohnung, während er auf Tony wartete, der ihn mit seinem Motorroller abholen wollte. Sie hatten einen Tisch bei einem Japaner in der Rue Sainte-Anne reserviert. Nino nahm sich fest vor, während des Essens von anderen Dingen als von Cyrille, von Akten, Versuchen oder Manien zu sprechen. Auf die letzten Unterlagen, die er Cyrille geschickt hatte, war noch keine Antwort von ihr gekommen, und er machte sich Sorgen.
    Nino hatte die unbestimmte Vorahnung, dass er bald selber vor ernsthaften Problemen stehen würde. Obgleich heute sein freier Tag war, hatte Colette ihn nachmittags zu Hause angerufen, was ungewöhnlich war.
    »Manien hat von mir die Akten verlangt, die ich dir gegeben habe«, hatte sie ihm mitgeteilt.
    Nino war beunruhigt. Warum interessierte sich Manien nach vielen Jahren plötzlich wieder für diese Patienten?
    »Was hast du ihm geantwortet?«
    »Dass ich sie nicht angerührt habe, natürlich. Aber es hat dich jemand verraten und ihm gesagt, dass du in seinem Computer herumgestöbert hast.«
    »Scheiße, das darf ja nicht wahr sein. Wer?«
    »Paul.«
    »Dieses kleine Miststück von Assistenzarzt?«
    »Ja.«
    »Der lässt doch keine Gelegenheit aus, sich beim Chef anzubiedern!«
    Nino war stocksauer. Ja, er hatte das Gefühl, dass er Probleme bekommen würde.
    Er nahm das Geräusch eines Motorrads wahr, das einige Meter von ihm entfernt anfuhr. Nino trat an den Rand des Bürgersteigs und stieß eine Rauchwolke aus. Tony? Das Motorrad tauchte aus einer dunklen Gasse auf, hielt auf ihn zu und gab Gas, als es auf seiner Höhe war. Nino hatte keine Zeit, zu reagieren, das Motorrad hatte ihn bereits erfasst.
    *
    Wie ein Löwe im Käfig lief Benoît Blake ungeduldig im Wohnzimmer hin und her. Zum zigsten Mal rief er bei Air France an, um zu fragen, ob inzwischen ein Platz nach Bangkok frei sei. Mit seiner Vielfliegerkarte wurde er bevorzugt behandelt, und schließlich klappte es. Benoît dankte dem Angestellten und kaufte ein Ticket für denselben Abend.
    Der Flug ging in drei Stunden. Er bestellte sich sofort ein Taxi und packte zwei Hemden und eine Hose, die er wahllos herausgriff, in eine Reisetasche, steckte seinen Reisepass und seine Zahnbürste ein. Die Klingel unterbrach seine eiligen Vorbereitungen. Er ging zur Wohnungstür und riss sie auf, bereit, seine schlechte Laune an demjenigen auszulassen, der es wagte, ihn zu stören. Doch was er vor sich sah, waren die Dienstausweise zweier Polizisten.
    »Monsieur Benoît Blake?«
    »Ja?«
    »Kommen Sie bitte mit.«
    Benoît Blake sah aus wie ein Fragezeichen auf zwei Beinen. Er wich ein paar Schritte zurück.
    »Und was verschafft mir die Ehre?«, rief er.
    Einer der beiden Polizisten, der Ältere, steckte seinen Ausweis ein.
    »Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen und Ihre Fingerabdrücke nehmen, wie bei allen, die Zutritt zum Zimmer von Mademoiselle Marie-Jeanne Lecourt hatten.«
    Blake zuckte mit den Schultern.
    »Natürlich finden Sie meine Fingerabdrücke in ihrem Zimmer! Es gehört mir, ich lasse meine Nichte darin wohnen.«
    Der Polizist ließ sich nicht aus der Fassung

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