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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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bringen.
    »Das können Sie uns alles auf der Wache erzählen. Würden Sie uns jetzt bitte folgen?«
    »Ich kann nicht mitkommen, mein Flugzeug geht in Kürze. Meine Frau braucht mich.«
    Der Polizist tat, als habe er das nicht gehört, und hob ein Paar Handschellen in die Höhe.
    »Möchten Sie wirklich, dass man Sie so das Haus verlassen sieht?«
    Wutentbrannt folgte Benoît den beiden.

43
    16.   Oktober
    Julien betätigte die Klingel des Sammeltaxis, das mit quietschenden Bremsen am Straßenrand anhielt. Der junge Mann reichte dem Fahrer einige Baht und half Cyrille vom Pick-up herab. Entgegen Katys Versprechen, jemand von der VGCD werde sie abholen, war niemand am Bahnhof gewesen, und der Telefonanschluss war besetzt. Daher hatten sie beschlossen, sich auf eigene Faust zum Zentrum durchzuschlagen. Nun standen sie allein am Ortsausgang von Surat Thani auf einer Teerstraße, die zu dieser frühen Morgenstunde noch wenig befahren war. Zu ihrer Rechten die prächtige Küste mit dem palmengesäumten Sandstrand, umspült vom kristallklaren Wasser des Golfs von Thailand. Zu ihrer Linken, so weit das Auge reichte, eine Kautschukplantage, die von einem breiten, schnurgeraden Weg geteilt wurde.
    »Bist du sicher, dass es hier ist?«, fragte Julien.
    »Es ist jedenfalls das, was ich auf dem Plan notiert habe.«
    Die dünnen Bäume standen dicht an dicht nebeneinander, aus ihren Stämmen floss durch eine Art Katheter ein dickflüssiger weißer Saft. Zwei Bäuerinnen hatten ihren Karren am Straßenrand abgestellt, um den Plantagenarbeiterinnen Bananen, Kokosnüsse und Süßigkeiten anzubieten. Cyrille ging zu ihnen und kaufte Obst und Kuchen. Sie versuchte, den beiden Frauen verständlich zu machen, dass sie die Sachen den Kindern im Zentrum mitbringen wollte, und deutete auf den Weg. Die Alten lächelten, schienen jedoch nichts verstanden zu haben.
    Im violetten Licht des frühen Morgens waren die Arbeiterinnen in einiger Entfernung bereits am Werk. Zwei Frauen und zwei Mädchen, bekleidet mit blauem Rock und blauem Oberteil, sammelten den Kautschuk in große Eimer. Weiter hinten füllten zwei andere die klebrige Masse in Gussformen aus Metall. Cyrille beobachtete die Szene. Sie fühlte sich mit einem Mal sonderbar ruhig und entspannt. Die laue Meeresbrise roch nach Urlaub. Sie schloss die Augen, ihr Haar wehte im Wind, sie genoss die wenigen Sekunden des Friedens.
    Den Fotoapparat in der Hand, hatte sich Julien ein Stück entfernt. Er bat die Arbeiterinnen um die Erlaubnis, sie fotografieren zu dürfen. Während Cyrille die Bäuerinnen bezahlte, wandte sie sich zu ihm um. Er wirkte so selbstsicher, so friedlich. Sobald wir wieder in Paris sind, werde ich ihn stationär einweisen und so gut wie nur möglich behandeln. Anschließend wird er für seine Taten einstehen müssen.
    Julien Daumas seinerseits sagte sich zum wiederholten Mal, dass die Morgendämmerung seine liebste Tageszeit war. Zwischen den Bäumen erahnte man das unendliche Meer. Er war in seinem Element, auch wenn es hier für seinen Geschmack zu ruhig war. Julien fotografierte die Frauen und konzentrierte sich auf ihre Hände bei der Arbeit mit dem Kautschuk. Er zoomte die Bäume heran und begann plötzlich, sich mit ihnen zu identifizieren, wie sie dastanden mit ihren klaffenden Wunden, die nie verheilen würden. Er fühlte sich allein, so allein, wie ein Mensch nur sein kann. Seine Mutter … Er wollte diesen Gedanken verscheuchen, doch er kam immer wieder zurück … seine ermordete Mutter. Ermordet . Seine Großeltern … verschwunden. Enge Freunde hatte er nicht. Und sein Liebesleben … ein schmerzliches Erlebnis nach dem anderen. Seine beruflichen Kontakte beschränkten sich auf die Chefs einiger Fotoagenturen und auf Organisatoren von Surfwettbewerben. Es gab niemanden, der ihn wirklich kannte. Klick. Er verewigte den Aderlass eines Kautschukbaums und fragte sich, ob dieser wohl unter dem Katheter litt, der in seinen Stamm gestoßen war. Klick . Er überlegte, wie sich dieser Schnitt wohl in seinem Arm anfühlen würde. Bei dem Gedanken ließ seine innere Anspannung nach.
    Klick . Nach seinem Tod würde er nur Natur-, Tier-, Wellen- und Surffotos hinterlassen. Schon immer war er anders gewesen. Als Kind las er am liebsten Reiseberichte, betrachtete Fotobücher und träumte vor der Weltkarte von so exotischen Namen wie British-Columbia oder Tasmanien. Die üblichen Jungenspiele interessierten ihn nicht. Er fand seine Kameraden laut, hektisch und

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