Begraben
festnehmen?«
Marie-Jeanne stieß ein trauriges Lachen aus.
»Nein, ich glaube nicht. Sie hat mich gefragt, wie ich Julien nach allem, was er mir angetan hat, noch schützen könne. Und dann hat sie mir zu verstehen gegeben, dass Benoît ihnen erklärt hätte, was für eine gestörte Persönlichkeit ich habe …«
Marie-Jeannes Stimme wurde wieder fester.
»Cyrille, alles, was ich weiß, ist, dass Julien unschuldig ist. Er hat mir das nicht angetan! Es war Benoît! Verstehst du?«
Marie-Jeanne holte tief Luft. Sie fühlte sich niedergeschmettert, zugleich aber auch erleichtert. Julien war nicht schuldig! Cyrille begann am ganzen Körper zu zittern. Ihr Mund war ausgetrocknet, ihre Atmung ging stockend.
»Cyrille? Bist du noch da?«, fragte Marie-Jeanne. »Ist alles in Ordnung?«
Cyrille hörte sich selbst mit ausdrucksloser Stimme antworten:
»Ja, Liebes, alles ist in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden.«
»Bist du sicher? Hast du alles verstanden?«
»Ja, ich habe sehr gut verstanden. Hör zu, kannst du dir eine Telefonnummer merken? Es ist die eines Freundes, dem du vollkommen vertrauen kannst. Er heißt Nino Paci und ist Krankenpfleger. Erkläre ihm, was du mir gerade erzählt hast, er wird sich um dich kümmern, bis ich wieder in Paris bin.«
Cyrille gab ihr die Telefonnummer von Nino, die Marie-Jeanne mehrmals wiederholte.
»Gut, wirst du sie dir merken?«
»Ja. Ich rufe eine Schwester, sie schreibt sie mir dann auf.«
»Ich umarme dich, Liebes. Ciao.«
Cyrille wurde von Krämpfen geschüttelt, ihre Finger waren eiskalt. Sie klapperte mit den Zähnen. Julien stand vor ihr.
»Alles okay?«, fragte er.
Sie richtete sich auf, ohne es zu merken, und schwankte. Einen Moment blieb sie reglos und leichenblass stehen, ihr Blick war ins Leere gerichtet.
»Ich … entschuldigen Sie.«
Sie lief an ihm vorbei und schloss sich in der Küche ein. Julien Daumas hörte, wie sie sich mehrmals übergab. Zehn Minuten später kam sie zurück, aschfahl, aber ruhig. Sie schaute Julien an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Er war kein gefährlicher Verrückter mehr, sondern ein kranker junger Mann, dem man ein abscheuliches Verbrechen in die Schuhe hatte schieben wollen. Die Melodie eines schwermütigen Tangos ging ihr durch den Kopf.
Sie wühlte in ihrer Tasche und schob sich ein Lexomil unter die Zunge. Das Beruhigungsmittel löste sich zu einem bitteren Brei auf. Gleich würde ihre Panik nachlassen. Sie biss die Zähne zusammen. Sie musste sich wieder in den Griff bekommen. Zehn Minuten musste sie durchhalten, ohne zu schreien.
Sie liefen den Korridor entlang. In einem kleinen Zimmer gegenüber der Küche lagen ein Computer und Aktenregale am Boden.
»Warten Sie eine Sekunde«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Cyrille schlüpfte in das Zimmer und inspizierte den Schreibtisch.
»Das kleine Mädchen, das wir holen wollten, hatte ein Handy bei sich, auf dem sich ein Video befand. Der Sekretär der VGCD hat mich gebeten, dieses Video zu suchen. Falls die Leiterin des Zentrums es aufbewahrt hat, muss es in diesem Raum sein. Wir müssen versuchen, es zu finden.«
Nun trat auch Julien ein und musterte Cyrille prüfend.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du bist sehr blass.«
»Ja, es geht mir ausgezeichnet.«
Mein Mann ist ein Ungeheuer!, hätte sie beinahe geschrien. Aber sie nahm sich zusammen.
Methodisch durchsuchten sie den kleinen Raum. Cyrille schob die Akten, die am Boden herumlagen, zur Seite und inspizierte die umgeworfenen Regale. Anschließend nahm sie sich den Schreibtisch vor, stellte den Computer wieder auf und öffnete die kleinen Fächer für die Datenträger. Julien wühlte in einer Schublade, die nicht herausgerissen worden war. Darin befanden sich verschiedene Dokumente. Und plötzlich umschlossen seine Finger in einem Wirrwarr von gebrauchten Batterien, Audio- und Videokassetten ein graues Gehäuse.
»Suchst du das?«
Julien hielt ein eingeschaltetes Handy in die Höhe.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cyrille müde. »Aber vielleicht haben wir tatsächlich einmal Glück.«
Der junge Mann surfte durch die Menüs.
»Es ist nichts drauf. Der Chip ist leer und der Akku auch bald«, erklärte er seufzend.
»Lassen wir es einfach und gehen …«, sagte Cyrille.
Sie blinzelte und gähnte, die Tablette begann zu wirken. Unbeeindruckt setzte Julien seine Inspektion des Handy-Innenlebens fort.
»Es gab eine Videodatei«, bemerkte er kurz darauf, »aber sie ist
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