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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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dann mit seinem Bericht fort.
    »In meinem Traum haben Sie lange, blonde Haare. Nicht exakt die gleichen Gesichtszüge, aber ich weiß, dass Sie es sind.«
    »Bin das wirklich ich oder nur jemand, der mir ähnelt?«
    »Sie sind es, so, wie ich Sie damals im Krankenhaus kennengelernt habe.«
    »Die Person, die Sie behandelt hat.«
    Cyrille Blake ließ den Satz einen Moment im Raum stehen, ehe sie sich räusperte.
    »Nun sollten Sie die Szene innerlich noch einmal durchleben, wohlwissend, dass Sie in diesem Zimmer in Sicherheit sind.«
    Julien schloss die Augen und visualisierte das nächtliche Geschehen, das am helllichten Tag weit weniger beängstigend war. Er blinzelte.
    »Geschafft.«
    Cyrille bestärkte ihn:
    »Gut so. Und nun stellen Sie sich die Situation erneut vor und überlegen, welches Detail Sie verändern könnten. Die Farbe einer Mauer, die Straßenbreite … Es ist allein Ihre Entscheidung.«
    Der junge Mann runzelte die Stirn.
    »Ich … ich weiß nicht.«
    »Suchen Sie nach einem Ausweg.«
    »Das kann ich nicht, der schwarze Mann ist überall.«
    Cyrille legte die Hände auf die Knie.
    »Und wenn es zum Beispiel auf dieser Straße eine Tür gäbe, eine Tür, die einfach auftaucht und durch die Sie verschwinden könnten.«
    »Wo?«
    »Bauen Sie sie dorthin, wo Sie sie haben wollen.«
    »Sie könnte direkt hinter mir sein.«
    »Wie sieht diese Tür aus?«
    »Es ist eine Brandschutztür.«
    »Sie können sie öffnen, nicht wahr?«
    »Ja, man muss nur die Stange in der Mitte herunterdrücken.«
    »Öffnen Sie sie. Was befindet sich dahinter?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Denken Sie sich etwas aus.«
    »Eine belebte Straße wie an einem Markttag.«
    »Ausgezeichnet. Öffnen Sie die Tür ganz weit und gehen Sie hindurch. Und das wiederholen Sie nun bitte mehrmals.«
    Dieses Mal schloss der junge Mann die Augen nicht und zwang sich, den Verlauf der Geschichte zu verändern. Er öffnete die Tür und fand sich in der Stadt wieder. Er war frei.
    »Gut … geschafft … ich öffne die Tür und gehe. Und nun?«
    »Diese Übung werden wir an drei aufeinanderfolgenden Tagen wiederholen, und zu Hause müssen Sie den Weg ebenfalls in Gedanken nachgehen. Auf diese Weise prägt sich Ihnen die Vorstellung ein. Dadurch wird sich Ihr Gehirn an diese Geschichte erinnern und nicht länger an die andere, die schlecht ausgeht.«
    »Und das klappt?«
    »Ja, sogar sehr gut. Unter der Bedingung, dass wir pro Tag eine Sitzung haben.«
    »Aber ist es denn nicht erforderlich, dass ich meinem Traum auf den Grund gehe?«
    »Nein.«
    »Ich dachte, man könnte Albträume nur dann loswerden, wenn man ihre Bedeutung entschlüsselt hat.«
    »Nein, die Entschlüsselung lässt sie nicht verschwinden. Diese Technik hingegen schwächt nachweislich die Wirkung traumatischer Albträume.«
    Julien richtete sich auf. Zum ersten Mal lächelte er.
    »Danke, ich fühle mich schon besser. Ich bin sicher, es wird funktionieren. Dieses Zentrum ist wundervoll.«
    »Ja, das finde ich auch.«
    »Darf ich … darf ich … dich … Sie … um einen Gefallen bitten?«
    Julien kramte in seiner Hosentasche, während Cyrille angespannt wartete. Schließlich reichte er der Ärztin einen großen, flachen Schlüssel.
    »Das ist der Zweitschlüssel zu meiner Wohnung«, sagte er, wobei er sie eindringlich ansah. »Ich möchte, dass Sie ihn aufbewahren. Es beruhigt mich, zu wissen, dass er bei Ihnen ist.«
    Cyrille schwieg und betrachtete misstrauisch den Schlüssel in ihrer Hand. Noch nie hatte ein Patient sie um einen derartigen Gefallen gebeten.
    »Wovor haben Sie Angst?«
    »Ich vertraue Ihnen. Wenn ich ein Problem habe, werden Sie mir helfen.«
    »Was für ein Problem?«
    »Ich weiß nicht … ein Problem eben.«
    In diesem Moment hätte Cyrille sich gerne mit einem Kollegen beraten.
    »Wollen Sie sich nicht lieber an jemanden wenden, der Ihnen nahesteht?«
    »Nein, ich fühle mich nur bei Ihnen in Sicherheit.«
    Ratlos saß sie einen Moment lang mit dem Schlüssel in der Hand da. Schließlich erhob sie sich und legte ihn deutlich sichtbar auf ihre Schreibunterlage.
    »Dort lassen wir ihn liegen. Sobald Sie sich besser fühlen, nehmen Sie ihn wieder an sich, einverstanden?«
    »Das soll mir recht sein.«
    Verunsichert begleitete Cyrille ihn hinaus.
    *
    Als sie zurückkam, blieb Cyrille kurz vor dem Schreibtisch ihrer Assistentin stehen, die gerade ein paar E-Mails schrieb. Schroff fuhr sie sie an.
    »Schlag ihn dir bitte aus dem Kopf! Danke.«
    Marie-Jeanne

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