Begraben
Körper. Er stellte seine Tasse ab und legte einige Krümel in seine geöffnete Handfläche. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Der Vogel zögerte, flog davon, kam zurück und hüpfte auf die neue Nahrungsquelle zu. Er fraß Julien aus der Hand, ein Gefühl wie kleine Nadelstiche. Der Fotograf rührte sich nicht und beobachtete den Vogel gebannt, so als hinge sein Leben von ihm ab. Dann wurde sein Blick plötzlich glasig und grau, er schloss die Hand um das kleine warme Wesen, das sich piepsend wehrte, und drückte zu.
7
Der Thermostat war auf 39 Grad eingestellt. Mit einem erleichterten Seufzer trat Cyrille unter den Wasserstrahl. Alle fünf Tage, wenn sie von der Nachtwache zurückkam, zelebrierte sie dieses Ritual, das ihr jedes Mal das gleiche Vergnügen bereitete. Eine heiße Dusche, anschließend, in einen weichen Bademantel gehüllt, ein üppiges Frühstück, dann drei Stunden Schlaf. Um elf Uhr kleidete sie sich an und begann einen neuen Arbeitstag, zunächst zu Hause, bis sie dann um vierzehn Uhr in die Klinik fuhr.
Doch heute vermochte das warme Wasser nicht die Angst zu vertreiben, die ihr den Magen zusammenschnürte. Sie spürte eine dumpfe Bedrohung, die von Stunde zu Stunde wuchs. So als würde ihr ein Schatten folgen, jederzeit bereit, sie anzugreifen. Irrational. Und doch sehr real. Sie verließ das Badezimmer und aß in der Küche an den Kühlschrank gelehnt ein Brot. Sie hatte keinen Hunger. Ihr alter Kater Astor saß schnurrend zu ihren Füßen, bis er ein Schälchen Milch und ein paar Streicheleinheiten bekam.
Als sie ihn im Garten der medizinischen Fakultät gefunden hatte, war er ein vier Wochen altes, wolliges Knäuel gewesen. Unter Sträuchern versteckt, schrie das magere Kätzchen kläglich. Es wollte überleben. Sie hatte es in ihren Pullover gewickelt und mit in ihr Zimmer in der Studentenstadt genommen. Das war vor achtzehn Jahren gewesen, in ihrem zweiten Studienjahr. Als sie noch geglaubt hatte, es sei ihre »Pflicht«, verzweifelte Seelen zu retten, indem sie Psychiaterin wurde. Zu jener Zeit trug sie ihr Haar zu einem langen blonden Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre Lehrer nicht unbeeindruckt ließ. Vor allem den, der heute ihr Bett teilte.
Achtzehn Jahre, ein beachtliches Alter für einen Kater, der, ohne die geringsten Anzeichen von Altersschwäche zu zeigen, friedlich an ihrer Seite lebte. Als Cyrille über den Flur ging, leise die Tür öffnete und sich ins Bett legte, folgte er ihr. Ihre Vorsicht war unnötig. Sie hörte das Rauschen der Dusche. Der Große Mann war schon aufgestanden.
Sie zog die Decke bis ans Kinn und versuchte, sich zu entspannen. Sie musste schlafen, doch ihre Gedanken überschlugen sich. Sie schloss die Augen. Als Benoît ihr einen kühlen Kuss auf die Wange drückte, schreckte sie zusammen.
»War die Nacht nicht zu hart?«
»Nein … Ich war gerade dabei einzuschlafen.«
»Ich wünsche dir einen schönen Tag, mein Liebling.«
»Ich dir auch. Und heute Abend koche ich dir was …«
»Eine sehr gute Idee. Ich komme nicht zu spät. Bis dann.«
»Dein USB-Stick liegt auf der Konsole im Flur.«
»Danke.«
Benoît Blake wollte gerade das Zimmer verlassen, doch dann überlegte er es sich anders.
»Weißt du, mein Liebling, ich habe über deinen vergessenen Patienten nachgedacht.«
Cyrille schlug die Augen auf und war plötzlich hellwach.
»Ja, und?«
»Es muss sich um einen Pseudologen, einen notorischen Lügner, handeln.«
Die junge Frau stützte sich auf den Ellenbogen.
»Warum?«
»Hast du seine Krankenakte aus Sainte-Félicité gesehen? War sie von dir unterschrieben?«
»Weiß nicht … Manien hat Marie-Jeanne ausrichten lassen, ich müsse sie beantragen.«
»Dann wette ich um eine Flasche Champagner mit dir, dass du zwar für den Fall zuständig warst, den Patienten aber nicht behandelt hast. So was kommt dauernd vor.«
»Aber der Patient versichert, dass ich seine behandelnde Ärztin war.«
»Wer sagt dir, dass das keine Hirngespinste sind? Er hat dich in Sainte-Félicité gesehen und diese Geschichte erfunden. Und du bist darauf reingefallen. So einfach ist das.«
Cyrille ließ sich zurücksinken. Was ihr Mann da sagte, klang vernünftig. Sie war verunsichert . Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Welchen geheimen Mechanismus hatte Julien Daumas ausgelöst, um sie in eine solche Panik zu versetzen?
Mit einem sonoren Schnurren sprang Astor aufs Bett. Benoît strich ihm über den Kopf.
Ȇberweise ihn in
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