Begraben
Behandlung von Geisteskrankheiten glich einer Wissenschaft. Für bestimmte Krankheitsbilder hatte man inzwischen mehr oder weniger reproduzierbare Resultate erzielen können, und jahrelange Berufserfahrung und unzählige wissenschaftliche Abhandlungen untermauerten die Wahl einer Therapieform. Es gab einen Konsens über diese oder jene Diagnose und die entsprechende Behandlung. Entscheidungen, die man bei Kongressen oder unter Kollegen mit ähnlich gelagerten Fällen diskutieren konnte.
Dagegen war Wohlbefinden ein rein subjektiver und diffuser Begriff. Das Gefühl, mit seinem Leben zufrieden zu sein, morgens geistig fit und voller Elan aufzustehen, um seinen täglichen Beschäftigungen nachzugehen, mit sich im Reinen zu sein, sich selbst gefunden zu haben, glücklich zu sein … Wie wollte man diese Empfindungen anhand von Tests oder Erhebungen ermitteln? Ist für diese alte Dame, die ihren Hund spazieren führt, Glück dasselbe wie für die beiden Jogger? Diese Frage stellte sich Cyrille nicht zum ersten Mal.
Sie war Psychiaterin, kannte sich mit Geisteskrankheiten aus, doch sie hatte einen anderen Weg gewählt, der ihr weitaus ambitionierter und schwieriger erschien. Sie verbrachte täglich fünfzehn Stunden damit, das Übel zu bekämpfen, das in einer von Konkurrenz, Effizienz und Individualismus geprägten Gesellschaft wie der unseren einen hervorragenden Nährboden hatte. Abhängig von der Person, die es befiel, nahm dieses »Übel« verschiedene Formen an. Seelisches Leid, Mangel an Selbstvertrauen und Liebe, das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, die Angst, zu versagen, die Angst vor dem Älterwerden und davor, nicht perfekt zu sein, seinen Besitz, sein Gedächtnis oder die Selbstkontrolle zu verlieren, die Angst vor dem nächsten Tag und dem Unbekannten … All diese heimtückischen Leiden, die sie täglich in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen erlebte, waren ihrer Ansicht nach Variationen ein- und desselben Übels.
Früher, so sagte sie sich, fürchtete man vor allem Krankheit und Tod. Heutzutage war es das Leben selbst, das Angst machte. Das war offenkundig bei all denen, die die Klinik aufsuchten. Um ihre Gelenke zu lockern, ließ Cyrille ihre Schultern kreisen. Erneut bekräftigte sie mental ihren Entschluss: Sie würde sich weder von Julien Daumas einschüchtern lassen, noch von irgendjemandem sonst. Sie biss die Zähne zusammen. Sie weigerte sich einfach, sich auf die Spielchen eines Wahnsinnigen einzulassen. Morgen würde sie sich weiter mit ihm unterhalten, ihre drei Sitzungen hinter sich bringen und ihn anschließend unverzüglich an die psychiatrische Klinik Sainte-Anne überweisen.
20 Uhr
Nackt, geduscht und frisiert, riss Cyrille das Etikett von ihren neuen Dessous ab, die noch in Seidenpapier eingepackt waren. Ein Ensemble aus roter Spitze mit dem verheißungsvollen Namen »Passion«, das sie vor einiger Zeit aus einer Laune heraus gekauft und bisher nicht getragen hatte. Sie zog die Stoffteilchen an und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Der BH hatte einen Push-up-Effekt, das Höschen bedeckte so gut wie nichts … Wieso habe ich das bloß gekauft? Ich sehe aus wie eine Luxusnutte … Sie verzog das Gesicht, ach, egal, Benoît würde es bestimmt gefallen. Nach zwölf Jahren Ehe musste man sich hin und wieder schon etwas anstrengen, um dem Intimleben ein wenig Würze zu verleihen.
Sie wollte einfach nur einen netten, entspannten Abend genießen. Denn wenn der Große Mann in drei Wochen den Nobelpreis verliehen bekäme – woran sie nicht eine Sekunde lang zweifelte –, würden sie sich vor den Medien und vor Anfragen nicht mehr retten können: Kolloquien leiten, Bücher und Artikel schreiben, viele offizielle Termine wahrnehmen. Ihr alter österreichischer Freund Frederik Randel, der im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden war, hatte ihnen gesagt: »Your life will never be the same.« Die Botschaft war eindeutig, und Cyrille wollte, dass sie beide diese entscheidende Phase unter guten Voraussetzungen begannen.
*
Benoît Blake, der sich früher in seiner Freizeit als Ringkämpfer betätigt hatte, war gut ein Meter achtzig groß, neunzig Kilo schwer und insgesamt eine imposante Erscheinung. Er betrat das geräumige Wohnzimmer – ein modern und puristisch eingerichteter Raum, ganz in Grau-, Schwarz- und Weißtönen gehalten. Cyrille, geschminkt und in einem schwarzen, tief dekolletierten Kleid, saß auf dem anthrazitfarbenen Ledersofa und
Weitere Kostenlose Bücher