Begraben
blickte ihre Tante aus unschuldigen blauen Augen an.
»Ich plädiere auf mildernde Umstände. Immerhin hat er mich angebaggert und nicht umgekehrt.«
»Das spielt keine Rolle. Unsere Patienten sind für Flirts tabu. Haben wir uns verstanden?«
Cyrille ging wieder in ihr Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Abgesehen von dieser merkwürdigen Geschichte mit dem Schlüssel fühlte sie sich besser. Sie hatte wieder die Oberhand. Dieser Patient war ein Pseudologe, ein notorischer Lügner. Das war für sie nun so offensichtlich, dass sie sich darüber ärgerte, einen ganzen Tag lang an sich gezweifelt zu haben. Ein Schrei, der vom Hof kam, ließ sie aufhorchen. Sie öffnete das Fenster. Clotilde kauerte neben dem Bambusstrauch, einen Müllbeutel in der Hand, und wimmerte.
»Clotilde!«, rief Cyrille. »Was ist los?«
»Es ist entsetzlich, Madame, ganz entsetzlich.«
»Was? Was ist denn so schrecklich?«
Clotilde schüttelte den Kopf und deutete auf etwas im Müllbeutel.
»Ich sehe nichts«, meinte Cyrille. »Was ist es denn?«
»Es ist einfach nur abscheulich.«
Es dauerte ungefähr eine Minute, bis Cyrille hinunter ins Erdgeschoss und in den Hof gelaufen war. Zwei steile Falten hatten sich auf ihrer Stirn gebildet.
»Was, Clotilde, was?«, fragte sie atemlos.
»Das, Madame.«
Im Beutel lag ein kleines Federknäuel.
»Ein toter Vogel«, konstatierte Cyrille.
Die Schwesternhelferin hob das kleine Wesen hoch, um es der Ärztin zu zeigen.
»Ich verstehe noch immer nicht.«
Clotilde drehte den Spatz so, dass man seinen Kopf sehen konnte.
»Die Augen!«
»Die Augen?«
»Er hat keine Augen mehr.«
Ausgestochen.
Man konnte deutlich zwei Einschnitte erkennen.
»Wer hat das getan?«
»Ich weiß nicht, Clotilde«, erwiderte Cyrille mit tonloser Stimme. »Kein Grund zur Aufregung.«
Doch sie hob den Kopf, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Vogel lag genau unter dem Fenster des Zimmers, in dem Julien Daumas die Nacht verbracht hatte.
9
Der Park des Champ-de-Mars war feucht und fast menschenleer. Nach der Arbeit joggte Cyrille wie jeden Tag fünf Kilometer. Ihre beruflichen Sorgen, die Patienten, die Vorbereitungen für den bevorstehenden Vortrag des Philosophen Lecomte – all das ließ sie hier hinter sich. Als sie an der großen Wiese in der Mitte umkehrte, waren ihre Wangen gerötet. Sie spürte, dass sie seit zwei Monaten kein Kardiotraining mehr gemacht hatte. Mit raschen Schritten, die Hände in die Hüften gestemmt, ging sie nach Hause. Ich muss einfach wieder jeden Tag meine Übungen machen . Benoît hielt eine Vorlesung am Collège de France. Er würde nicht vor zwanzig Uhr nach Hause kommen. Sie wollte sich umziehen, eine gute Flasche Rotwein öffnen, die Bio-Lasagne aus dem Feinkostgeschäft aufwärmen, dazu noch schnell einen kleinen Salat mit Nüssen und wilden Schalotten machen, wie er ihn so gerne aß, und dann die Überraschung für ihn vorbereiten: Sie würde ein leichtes Kleid und dazu die neuen Dessous anziehen, die in ihrer Schublade warteten. Sie wollte den gestrigen verdorbenen Abend wiedergutmachen. Außerdem würde sie das auf andere Gedanken bringen und ihrem Eheleben guttun.
Julien Daumas, der Pseudologe. Ein junger Mann, den ein bisher nicht identifiziertes Trauma quälte, verwandelte sich in einen kleinen Jungen, der von nächtlichen Schreckensvisionen heimgesucht wurde. Und der seine Phantasiebilder auf sie projizierte.
Sie hatte schon mehrere Patienten mit Albträumen behandelt, aber noch nie einen so eigenartigen Fall gehabt. Julien Daumas unterschied sich von allen anderen Patienten. Er hatte sich völlig abgekapselt und sprach nicht gern über sich, doch man erkannte rasch, dass sich hinter der Fassade des sportlichen Träumers ein Mensch von außergewöhnlicher Intelligenz und Kreativität verbarg. Ein Blick in sein Fotobuch im Internet hatte ihre Vermutung bestätigt: Verschiedene, anscheinend zufällig entstandene Aufnahmen, von denen ein Foto sie besonders durch seine Schönheit und Poesie beeindruckt hatte. Eine Sandwüste bei Sonnenuntergang, im Vordergrund ein heulender Wolf.
Cyrille massierte sich die Rippen, allmählich nahmen ihre Wangen wieder eine normale Färbung an. Sie war gespannt, ob die Krakowsche Methode gegen Albträume in einem so komplexen Fall helfen würde.
Ein junges Paar im Sportdress joggte an ihr vorüber. Ob die beiden wohl glücklich sind? Ihr Beruf erschien ihr auf einmal ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Die
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