Begraben
Stirn.
»Ist irgendetwas? Warum siehst du mich so komisch an?«
»Du bist heute Abend wirklich wunderschön.«
»Nett, dass du das sagst«, erwiderte sie, dann fuhr sie fort: »Ich wende bei Daumas das Krakowsche Verfahren an. Das wird ihm kurzfristig sicher helfen. Wenn es sich um ein unbewusstes Trauma handelt, werden die Albträume nach einiger Zeit wiederkommen. Aber ich habe ohnehin beschlossen, den Fall abzugeben.«
»Hm …«
»Bist du nicht einverstanden?«
»Doch, doch. Das ist die beste Lösung.«
»Weißt du, der Patient verhält sich wirklich seltsam. Bevor er heute ging, hat er mir seinen Hausschlüssel anvertraut. Dann würde er sich sicherer fühlen, meinte er.«
»Und, bist du darauf eingegangen?«
Cyrille zuckte mit den Schultern.
»Ich war total überfordert. Aber morgen bekommt er ihn zurück.«
Benoît gähnte, streckte sich und stand auf.
»Jetzt haben wir aber lange genug über die Arbeit gesprochen.«
»Möchtest du keinen Nachtisch?«
»Nicht sofort.«
Der Professor ließ sich aufs Sofa fallen. Er streifte seine Schuhe ab und machte den Gürtel auf. Cyrille setzte sich neben ihn und seufzte müde.
»Soll ich dich vielleicht massieren, Liebling?«, schlug Benoît vor. »Du siehst erschöpft aus.«
Cyrille wiegte den Kopf hin und her.
»Warum nicht?«
»Eine Kopfmassage?«
»Phantastisch.«
Benoît zog seine Frau an sich. Seine Geste war etwas grob, doch er massierte mit sanftem Druck ihren Nacken und den Hinterkopf, und das war angenehm. Dann arbeitete er sich mit kleinen kreisenden Bewegungen bis zur Stirnhöhle vor. Anschließend fuhren seine Finger an ihrem Haaransatz entlang. »Aua!«, rief Cyrille. »Willst du mich untersuchen?«
»Tut das weh, wenn ich hier drücke?«
»Nein, nicht wirklich, aber es ist auch nicht sehr angenehm.«
Benoîts Hand glitt über Cyrilles Hals, liebkoste ihre Haut bis zum Brustansatz.
»Aber, sagen Sie, Madame, was ist denn das für eine rote Spitze?«
»Keine Ahnung, Monsieur, ich weiß gar nicht, wie die da hinkommt«, erwiderte Cyrille kokett.
»Also, ich glaube, das werde ich mir mal aus der Nähe ansehen müssen«, meinte ihr Mann und küsste sie zärtlich.
10
Der Barkeeper, den seine Mutter auf den Namen Pierre-Louis getauft hatte, wurde von allen Gästen nur Luigi gerufen. Gerade stellte er ein drittes Desperado vor Sean ab, einem irischen Studenten, der hier seinen freien Abend verbrachte. Die Bar war um diese Zeit noch halb leer, auf den Flachbildschirmen liefen in einer Endlosschleife MTV-Clips. Amy Winehouse sang »I say no, no, no« für die wenigen Anwesenden, die darauf warteten, dass endlich das Dart-Turnier startete. Luigi wechselte ein paar Worte mit dem Studenten, der nur wenig Französisch sprach. Dabei schielte er immer wieder zum Eingang hinüber. Er beobachtete den schweren, dunkelgrünen Samtvorhang vor der Tür.
Um einundzwanzig Uhr bewegte er sich endlich, und sie erschien.
Sie.
Ein Mal, nur ein einziges Mal hatte er sich getraut, ihr ein Bier auszugeben. Bei einer der seltenen Gelegenheiten, als sie ohne Begleiter gekommen war. Normalerweise hatte sie immer irgendwelche Kerle im Schlepptau, häufig Zufallsbekanntschaften, wie es schien. Sobald sie in der Bar aufkreuzte, stieg die Stimmung spürbar. Überschwänglich begrüßte sie die Stammgäste, gab ein paar witzige Sprüche zum Besten und schüttelte ihre feuerrote Mähne.
Luigi sagte sich, dass sie mit ihren Rundungen nicht gerade eine Schönheit war, doch mit ihrem strahlenden Lächeln betörte sie unweigerlich jeden Mann. Alle Welt wusste, dass sie in der, wie man hier sagte, »Glücksklinik« arbeitete und dort als sehr zuverlässig galt. Und in der Bar gab es keine bessere Stimmungskanone. Luigi setzte sein charmantestes Lächeln auf. Er wusste, dass er ein hübscher Kerl war und wie alle anderen eine Chance hatte, doch was er dann sah, ernüchterte ihn. Denn hinter Marie-Jeanne tauchte der Prototyp eines schönen Mannes auf, ein großer Blonder, athletisch gebaut, lässig gekleidet, Augen so grau wie der Ozean … Der Albtraum für jeden Durchschnittsmann. Okay. Er konnte seine Hoffnungen begraben, der Abend war gelaufen. Luigi betete, dass die beiden sich nicht an den Bartresen, genau vor seine Nase setzten. Fehlanzeige.
»Hello, Luigi, bringst du uns bitte zwei Desperados?«
Marie-Jeanne schwang sich in ihren engen Jeans auf den Barhocker und rief ihm die Bestellung zu. Sie wirkte aufgekratzt und ließ den schwarzen Trenchcoat auf die
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