Begraben
seinen Trieb zu sprechen, aber er hat es nicht fertiggebracht, weil er ihm zu abartig erschien. Also hat er nur die Albträume erwähnt und mich in seine Wohnung gelockt, um auf diese Weise den Rest zu enthüllen – das, um was es ihm wirklich geht. Das ist eine Bitte um Hilfe. Was hingegen die Anspielung auf Lily und ihre Musik betraf, so hatte sie dafür noch keine logische Erklärung finden können.
Heute Morgen beim Frühstück hatte sie sich gesagt, dass sie zu selbstsicher war. Nachdem sie seit fünf Jahren recht erfolgreich und ohne größere Probleme Menschen behandelte, hatte ihre Wachsamkeit nachgelassen. Diese Feststellung missfiel ihr zutiefst. Unentschuldbar. Während sie ihr Brot kaute, hatte sie sich überlegt, wie viel Handlungsspielraum sie hatte, um ihren Fehler wiedergutzumachen. Beim Abräumen des Tisches hatte sie eine Entscheidung getroffen.
Cyrille öffnete die Schreibtischschublade und war froh, Pflaster zu finden. Sie schnitt zwei Stück davon ab und klebte sie auf ihre Fersen. Sie massierte den schmerzenden Trapezmuskel und ging dann zur Kaffeemaschine.
Die Tasse in der Hand, kehrte sie zum Schreibtisch zurück, machte einige Entspannungsübungen und atmete ein paarmal tief durch. Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer, die sie auch noch nach zehn Jahren auswendig kannte.
Sobald sie sich vorgestellt hatte, zeigte sich Maniens Sekretärin von ihrer unangenehmsten Seite. Nein, der Professor hätte keine Zeit, er hielt eine Vorlesung. Nein, er könne ihr nicht die Akte eines ehemaligen Patienten überstellen. Sie sei keine Angehörige und müsse also den offiziellen Weg gehen. Alles, was Cyrille schon wusste.
Sie knallte den Hörer auf. Was für ein Idiot! Was für ein Idiot!
Belinda sah zu ihrer Verwunderung, dass sich die Chefin eine Viertelstunde nachdem sie gekommen war, wütend und im Laufschritt, das iPhone in der Hand, anschickte, das Haus wieder zu verlassen. Cyrille antwortete verärgert auf die SMS, die sie gerade von Marie-Jeanne erhalten hatte: »Bin krank, kann nicht kommen.«
»Schalten Sie Marie-Jeannes Telefon auf den Empfang um, sie ist heute nicht da«, erklärte sie im Vorbeigehen. »Mein erster Termin ist in einer Stunde, bis dahin bin ich zurück.«
Cyrille machte eine Pause und fügte dann der Nachricht an Marie-Jeanne hinzu: »Bitte denk daran, die Verbindungstür zu schließen, wenn du deine Wäsche gewaschen hast. Danke!« Das war vielleicht etwas brüsk, aber heute Morgen war die Tür zwischen der Wohnung und Marie-Jeannes Zimmer schon wieder offen gewesen.
Sie schickte die Nachricht ab und stieg in ihren Mini Cooper. Marie-Jeanne hatte sie noch nie im Stich gelassen. Trotz ihrer lässigen Art war sie ein fleißiges Mädchen, ihre plötzliche Abwesenheit verhieß nichts Gutes. Hatte sie vielleicht Lust, wieder zu verschwinden? Cyrille seufzte. Sie rechnete damit, dass sich Marie-Jeanne nicht ihr ganzes Leben lang mit einem Bürojob zufrieden geben würde. Sie war eine Träumerin und Abenteurerin, die starke Emotionen brauchte. Die Klinik war nur eine Etappe, wo sie sich nach einigen Niederlagen ausruhte, um dann wieder auf Reisen zu gehen. Cyrille wurde plötzlich bewusst, dass sie fürchtete, Benoîts Nichte könnte ihre Sachen packen, denn sie war mit der Zeit ein wichtiger Pfeiler ihrer Organisation geworden. Sie drehte den Zündschlüssel um, doch bevor sie losfuhr, schrieb sie eine zweite SMS: »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes, ich rufe dich bald an.«
8 Uhr 25
Cyrille sah die Medizinstudenten gähnen und schwarzen Kaffee aus Plastikbechern trinken, der aus dem altertümlichen Automaten stammte. Die Ränge des Audimax im Krankenhaus Sainte-Félicité waren nur spärlich besetzt. Hatte es am Vorabend eine Party gegeben, die Zweidrittel der Studenten lahmgelegt hatte? Einige der Anwesenden schrieben im Eiltempo mit, die meisten benutzten das Mikro ihres MP3-Players, um Professor Maniens Vorlesung aufzunehmen, denn er war dafür bekannt, sich nicht um ein langsames Tempo zu bemühen.
Manchmal zeigte er Dias, doch zumeist zählte er Fakten über Fakten auf, die er dann in der Semesterabschlussprüfung abfragte. Manien, »der Ochse«, wie ihn die Studenten nannten, war nicht beliebt.
Cyrille Blake nahm in der letzten Reihe Platz. Die Bänke waren noch genauso unbequem wie früher. Sie betrachtete die gelben, rissigen Wände, das grüne Linoleum am Boden, die Staubflocken. Die hölzernen Klapppulte waren verschmiert und mit den
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