Begraben
Ansprache halten.
Die Gäste gaben ihre Mäntel ab und gingen in kleinen Gruppen über die spiralförmige Rampe des Museums zu den gedeckten Tischen im letzten Stock. Auf dem Weg bewunderten sie die zahlreichen Masken und Statuen. Am Fuß der Rampe begrüßten der Vorsitzenden der Alzheimergesellschaft und Tardieu – beide mit ihren Ehefrauen – sowie Benoît Blake die Geladenen.
Mit einer Hand raffte Cyrille den Rock ihres schwarzen Musselinkleides, um nicht auf den Saum zu treten, mit der anderen presste sie ihre Abendtasche und ihr Handy an sich. Sie lief so schnell, wie ihre High Heels es zuließen. Welcher Sadist hat nur solche Absätze erfunden? Außer Atem und mit wirrem Haar traf sie als Letzte ein. Sie war in einer erbärmlichen Verfassung. Der Blick, den ihr Benoît zuwarf, schmetterte sie noch mehr nieder. Sie lächelte ihn an, um seinen Zorn, den er ihr unverhohlen zeigte, zu besänftigen.
»Ein furchtbarer Nachmittag, wirklich. Tut mir leid. Ich bringe nur schnell mein Haar in Ordnung, dann komme ich.«
Sie gab ihren Mantel an der Garderobe ab. Auf der Toilette fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar und besprenkelte Gesicht und Hals mit kaltem Wasser. Sie stützte sich auf das Waschbecken aus rosafarbenem Marmor und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Spiegelbild zeigte eine schockierte, entsetzte Frau.
Sie lief rasch die über drei Stockwerke führende Rampe hinauf, zupfte ihr Kleid zurecht und bemühte sich um eine ruhige, entspannte Miene. Angesichts ihres Berufes und ihrer Stellung musste sie immer glücklich und ausgeglichen wirken. Das war zwar albern, aber nicht zu ändern. So wie man von einem Zahnarzt perfekte Zähne und von einer Friseuse ordentlich gekämmte Haare erwartete, musste sie Gelassenheit ausstrahlen. Meistens fiel ihr das nicht schwer – ausgenommen an Tagen wie diesen.
Als sie neben ihrem Mann Platz nahm, wirkte sie ruhig und gefasst, auch wenn sie überall lieber als an diesem Ort gewesen wäre. Vorzugsweise auf dem Sofa ausgestreckt, einen doppelten Gin in der Hand, allein oder vielleicht mit Muriel, um ihr von ihrer grauenvollen Entdeckung zu erzählen. Ihre Freundin hätte wie immer Galgenhumor bewiesen. »Eine Kette aus Augen, ach, wie trendy!«, hätte sie vielleicht gesagt. Das hätte ihr gutgetan, doch stattdessen saß sie einem redseligen Soziologen und einem Wissenschaftshistoriker gegenüber, dessen Namen sie vergessen hatte. Benoît spielte mit Bravour den liebenswürdigen Ehemann. Doch unter seiner Freundlichkeit spürte sie seine Wut. Er war ihr böse wegen der Verspätung und würde ihr auf dem Nachhauseweg die Quittung dafür präsentieren, da war sie sich ganz sicher. Er konnte ja nicht ahnen, was sie durchgemacht hatte. Sobald sie die Gelegenheit dazu hätte, würde sie es ihm erzählen, und er würde ihr verzeihen. Sie griff nach ihrem Champagnerglas und leerte es in einem Zug.
Der Brief von Julien Daumas befand sich in ihrer Tasche, doch jedes Wort war in ihr Gedächtnis eingraviert. Alles in diesem Brief zeugte von einem Maniker in der Phase der emotionalen Übertragung. Bis auf diese Zeilen:
Dein anderes Ich gefällt mir besser.
Meine Lily, die einen
schwermütigen Tango spielte.
Erschreckend. Wer außer ihr selbst wusste, dass ihr Vater sie als kleines Mädchen Lily genannt hatte? Wer außer Benoît wusste, wie wichtig der Tango und die Musik in ihrem Leben waren? Woher hatte Julien Daumas diese persönlichen Informationen? Cyrille sagte sich, dass nichts auf dieser Welt magisch war und dass es zwangsläufig eine Erklärung dafür gab, sie musste sie nur finden. Worte waren nur Worte, die brauchte sie nicht zu fürchten. Und doch hatte sich die Angst in ihr festgesetzt. Daran musste sie arbeiten. Im Moment spielte sie mit ihrem Brot, formte es zu kleinen Kugeln und betete, dass der Abend schnell vorüber sein möge.
Zerstreut lauschte sie ihrem Nachbarn zur Rechten, der die Wirkung von Johanniskraut auf das Gemüt pries. Er fragte sie nach ihrer Meinung, sie gab ein paar banale Antworten und zwang sich, die Technik des positiven Denkens anzuwenden, die sie mit so viel Enthusiasmus lehrte. Ich danke dem Leben, dass ich heute Abend hier sein und meinen Mann begleiten darf. Ich danke für meinen aufregenden Beruf, der es mir erlaubt, so interessante Menschen zu treffen. Ich danke dem Leben, dass ich lebe, dass ich nicht krank bin … Sie brachte die innere Stimme zum Schweigen, die ihr eher etwas weniger Tröstliches einflüstern
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