Begraben
Eindruck, dass sie Selbstgespräche führte. In diesem Wartesaal, hinten in der Nähe des Fernsehers, war sie als junge Ärztin während der klinischen Ausbildung von einem Drogenabhängigen angegriffen worden. Der Junkie hatte sie am Hals gepackt und mit einer Glasscherbe bedroht. Die Schwesternhelferinnen hatten ihr das Leben gerettet.
Zu jener Zeit hatte sie abwechselnd in der Ambulanz und auf der Station B gearbeitet, wo anscheinend Julien Daumas behandelt worden war. Erwachte ihre Erinnerung an diesem Ort wieder? Nein, ganz offensichtlich nicht.
Sie ging am Schwesternzimmer vorbei zum Aufenthaltsraum für das Personal, klopfte an und trat ein. Drei Krankenschwestern der Tagesschicht unterhielten sich. Es roch nach Kaffee und frischem Baguette. Auf dem Resopaltisch, der fast den ganzen Raum ausfüllte, stand alles, was zu einem guten Frühstück gehörte: Honig, Marmelade, ein großer, fast leerer Topf mit Nussnougataufstrich.
»Guten Morgen.«
Die drei unterbrachen ihr Gespräch. Kein bekanntes Gesicht. Sie betrachteten den Eindringling – Besuchszeit war von vierzehn bis zwanzig Uhr.
»Ich bin Doktor Cyrille Blake und habe hier meine klinische Ausbildung absolviert. Ich hatte heute Morgen einen Termin bei Professor Manien.«
Die drei Frauen entspannten sich. Cyrille fuhr fort:
»Arbeitet Nino Paci noch immer hier?«
Eine der Krankenschwestern, eine dicke Kurzbeinige, schüttelte den Kopf und kaute weiter.
»Er hat frei.«
Cyrille warf einen Blick auf den Dienstplan. Nino war erst in drei Tagen wieder eingeteilt.
»Vielen Dank.«
Sie war enttäuscht. Er war der Einzige, den sie in guter Erinnerung behalten hatte. Ein Gefühl von Angst und Frustration erfasste sie.
Sie ging zurück zum Parkplatz, froh, von diesem Haus wegzukommen. Cyrille konsultierte auf ihrem iPhone das Telefonbuch. Wenn sie sich recht erinnerte, war sie zwei- oder dreimal bei einem Fest von ihm gewesen, im dreizehnten Arrondissement. Sie fand Paci, Nino, Rue de Tolbiac.
Sie beendete die Internetverbindung und klickte in ihrem Adressbuch »Marie-Jeanne« an. Drei Klingeltöne, dann wieder der Anrufbeantworter.
15
Mit nacktem Oberkörper, in Boxershorts, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, saß Julien Daumas dem Fenster gegenüber am Tisch. Er hatte seine Brille aufgesetzt. Vorsichtig klebte er die kleine Solarzelle auf den Holzsockel und schob einen vierzig Zentimeter langen Draht hinein. Daran befestigte er einen bunten Stoffschmetterling. Dann hielt er sein Werk ins Sonnenlicht, das zwar nicht sehr stark war, aber ausreichend, um den Schmetterling zum Flattern zu bringen. Julien neigte den Kopf zur Seite, beobachtete sein Werk einige Sekunden lang und erhob sich zufrieden. Er trat zu der Liege, unter deren Decke ein feuerroter Lockenschopf hervorquoll. Zwei Augen und eine Nase tauchten auf. Marie-Jeanne verzog glücklich das Gesicht. Julien setzte sich auf das schmale Bett, in dem sie dicht aneinandergeschmiegt die Nacht verbracht hatten.
»Schau her, das ist für dich.«
Marie-Jeanne hob den Kopf.
»Hast du das gemacht?«
Der junge Mann nickte, und das Mädchen strahlte.
»Wie wunderschön … vielen Dank.«
Sie ließ den Kopf auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Wenn Julien sie mit seinen ausdrucksvollen Augen und seinem schüchternen Halblächeln weiter so ansähe, würde sie sich verlieben. Das wäre eine Katastrophe. Sie wollte nicht mehr leiden. Aber er hatte ihr gerade ein Geschenk gemacht, und das bedeutete, dass sie ihm wichtig war. Nein, lass dich nicht auf so etwas ein, du hast dich schon genug gequält.
Sie schob einen Arm unter der Decke hervor und griff nach ihrem Handy. Zwei Anrufe von Cyrille. Verdammt . Sie war heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, aber was soll’s! Man lebte schließlich nur ein Mal, und der Job war nur ein Job, außerdem brauchte Julien sie. Sie würde später im Zentrum anrufen. Als Julien ihre Schulter streichelte, verflogen ihre Schuldgefühle. Zum hundertsten Mal bewunderte sie seinen durchtrainierten Körper. Nur geschmeidige Muskeln, kein Gramm Fett, unbehaarte, zarte Haut, auf den Schultern ein paar Sommersprossen. Ähnlich wie bei ihr.
Als er in der Nacht bei ihr angerufen hatte, hatte sie ihn ohne Zögern aufgenommen. Schnell hatte sich die Atmosphäre in ihrem winzigen Zimmer aufgeheizt, und sie hatte all ihren Erfindungsreichtum eingesetzt, ihm die verschiedensten Stellungen vorgeschlagen und dabei viel Initiative und Gelenkigkeit an den Tag
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