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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Graffitis von Generationen von Studenten überzogen.
    Rudolph Manien war zwar gealtert, hatte aber seine kräftige Statur bewahrt, den Stiernacken, die grauen, dichten Haare und die grimmige Miene. Auch von seinem weißen Kittel hatte er sich nicht getrennt, die linke Hand wie damals in der Tasche versenkt. Cyrille Blake beobachtete den Studenten, der vor ihr saß: Ein schlaksiger Kerl, Haut und Haare farblos, der sich in aller Eile Notizen machte. Er verpasste jeden zweiten Satz, regte sich auf, strich Wörter durch und machte Pfeile, um Bezüge herzustellen. Der Kurs ging seinem Ende zu. Was erzählte Manien?
    »In der Regel setzt die Schizophrenie am Ende des Jugendalters ein. In fünfzig Prozent aller Fälle beginnt sie vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Doch es gibt auch Formen von Kinderschizophrenie – Anfangsalter unter zwölf Jahren –, deren Häufigkeit bei eins zu zehntausend liegt.«
    Cyrille stützte sich auf die Holzlehne und musterte diesen Professor, der außerstande war, seine Leidenschaft für den Beruf des Psychiaters zu vermitteln. Wie viele Stunden hatte sie in diesem Audimax verbracht, Stunden der Anspannung, der Examensangst … Als ewige Musterschülerin hatte sie stets in der ersten Reihe gesessen.
    Sie war seit zehn Jahren nicht mehr hier gewesen, doch es hatte sich nicht viel verändert. Manien setzte seine Vorlesung fort und bemerkte nicht, dass die Studenten seine Worte festhielten, ohne ihren Sinn zu verstehen. »Die Stabilität der am häufigsten beschriebenen klinischen Formen der Schizophrenie – Paranoia, Hebephrenie, Katatonie – ist gering, und zumeist entwickelt sich die Krankheit in eine Richtung, in der keine dieser drei Formen prädominiert.«
    Dr.   Cyrille Blake beobachtete den alten Professor, der sich ausschließlich an die erste Reihe wandte. Hier, inmitten der Studenten, wurde ihr klar, welchen Weg sie zurückgelegt hatte. Sie war nicht mehr fünfundzwanzig, ihr Leben hatte sich verändert, und diese Hölle war für sie vorbei.
    Manien beendete seine Vorlesung. Die Klappsitze schnellten einer nach dem anderen nach oben. Der schlaksige Student vor ihr packte eilig seine Sachen zusammen und stürzte durch das Audimax, um dem Professor, der seine Unterlagen in die alte lederne Aktenmappe schob, eine Frage zu stellen. Cyrille erhob sich ebenfalls und ging langsam die Stufen hinab. Während er dem Jungen antwortete, hob Rudolph Manien den Blick zu jener Studentin, die die Unverschämtheit besessen hatte, fünfzehn Minuten vor Ende seiner genialen Vorlesung hereinzuschneien. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, erkannte er sie, und seine Augen verengten sich zu zwei Schlitzen.
    »Sieh einer an … Madame Blake. Ich habe mich schon gefragt, wer wohl so unhöflich sein könnte, meinen Kurs zu stören. Aber bei Ihnen wundert mich das nicht weiter.«
    »Guten Tag, Professor Manien«, begrüßte Cyrille ihn kühl und legte ihm ihr Anliegen dar.
    »Wie meine Assistentin Ihnen bereits telefonisch mitgeteilt hat, brauche ich die Krankenakte eines Patienten. Er weist gravierende Störungen auf. Solange ich nicht über seine Vorgeschichte informiert bin, kann ich nichts zu seinem Zustand sagen oder eine adäquate Therapie einleiten. Können Sie bitte die Dinge etwas beschleunigen und mir noch heute alle nötigen Informationen zukommen lassen?«
    Manien drückte die Schlösser seiner Tasche mit einem trockenen Klicken zu und hätte sie im Vorbeigehen fast angerempelt.
    »Dafür hätten Sie nicht extra kommen müssen. Ich habe keine Zeit, mich um Ihre Angelegenheiten zu kümmern, meine Sprechstunde beginnt in zehn Minuten.«
    Mit einem für seine Korpulenz erstaunlich flinken Schritt stieg er vom Podium und öffnete die dem Personal vorbehaltene Tür, die direkt in den Verwaltungstrakt führte. Cyrille lief ihm nach.
    »Das sind nicht nur ›meine‹ Angelegenheiten, da sich der Patient in ›Ihrer‹ Obhut befunden hat.«
    Manien lachte höhnisch.
    »Wenn er heute ›Ihre‹ Einrichtung aufsucht, dann beweist dies, dass es ihm wesentlich besser geht!«
    Cyrille steckte den Schlag ein. Ihr Tonfall wurde schärfer.
    »Ich kann mir vorstellen, was Sie vom Zentrum Dulac halten, aber das ist mir egal. Ich bitte Sie nur, mir Informationen zu übermitteln, die es mir erlauben, meinen Patienten bestmöglich zu behandeln.«
    Sie blieben vor dem Personalaufzug stehen. Manien war gezwungen, neben Cyrille zu warten. Er wippte auf den Ballen.
    »Ich muss zugeben, das

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