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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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sie ihm. Ihr Bewusstsein erweiterte sich. Maud tanzte, ihre Füße gruben sich in den Sand, ihre Arme und ihr Kopf bewegten sich zur Musik. Cyrille lächelte noch immer, die Kanadierin war stoned und sah in diesem Licht wunderschön aus. Jenseits der slawischen Melodie vernahm sie den monotonen Rhythmus einer Basstrommel. Cyrilles Wahrnehmung erweiterte sich noch mehr.
    Andere ihr weniger bekannte Leute umringten sie tanzend, verrenkten ihre Körper, konnten sich kaum auf den Beinen halten. Sie waren betrunken oder standen unter dem Einfluss verschiedener Substanzen, die das Paradies verhießen. Cyrille fühlte sich nicht in Gefahr, sie verstand die anderen, hier waren alle eine große Familie und huldigten der Musik, der Liebe, den Drogen, dem Sex und dem Mond. Mauds Blicke sandten erotische Signale an jeden, der sie zu deuten vermochte. Ein junger Mann näherte sich ihr, seine gen Himmel gestreckte Faust bewegte sich rhythmisch zu dem Klang der Trommeln. Maud küsste ihn auf den Mund. Dann wandte sie sich zu Cyrille um und gab ihr einen Kuss auf Stirn und Lippen.
    Cyrille durchfuhr ein lustvoller Schauer. Sie war in ihrem Körper und schien gleichzeitig über ihm zu schweben. An diesem Ort waren etwa hundert Personen versammelt. Cyrille empfand eine atemberaubende Lust. Sie lächelte, denn nun vibrierte auch ihr Körper im Rhythmus der Trommeln, und sie befreite sich von ihren jahrelangen Schuldgefühlen.
    Plötzlich berührte jemand sie am Arm. Sie öffnete die Augen und sah einen verführerischen jungen Thai vor sich. »Jemand möchte dich sprechen.« Ein Mann in Anzug und mit Krawatte, Sandalen an den Füßen, kam auf sie zu. Es war ein alter Thailänder mit intelligentem Blick, der sie auf merkwürdige Art anlächelte. Lediglich eine Hälfte seines Gesichts bewegte sich.
    Guter Gott!
    Die Überraschung wirkte ernüchternd auf sie. Der Sand wurde wieder zum Teppich, die Musik verschwand, die Tänzer lösten sich in Luft auf. Sie öffnete die Augen.
    Erstaunt runzelte Maurice Fouestang die Stirn.
    »Ihre Hände werden nun wieder leicht, ich fange gleich zu zählen an, und bei zehn wachen Sie auf. Eins, Ihre Füße werden leicht, Sie fühlen sich wohl in Ihrem Körper. Zwei, drei, vier, fünf, bei sechs werden Sie sich an alles erinnern, was gesagt wurde, sechs, sieben, acht, neun, ein wohliges Gefühl durchströmt Ihren Körper. Zehn, Sie sind bei mir.«
    Fouestang sah, wie Cyrille benommen blinzelte.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Ich weiß nicht. Ich muss darüber nachdenken.«
    Fouestang schüttelte den Kopf.
    »Machen Sie sich nicht die Mühe. Die Arbeit geschieht auf einer Ebene, die sich Ihrer Analyse entzieht. Lassen Sie es zu. Und wenn Sie zu Hause festigen wollen, was wir hier begonnen haben, dann setzen Sie sich hin und atmen konzentriert ein und aus.«
    Cyrille Blake strich nervös über ihre Beine.
    »Ja, ja.«
    Nachdem sie ihren Kollegen bezahlt hatte, lief sie die Treppe hinab und zurück zu ihrem Wagen, ohne zu registrieren, dass der Himmel sich zugezogen hatte und bereits die ersten Regentropfen fielen. Sie stieg in den Mini und drehte mechanisch den Zündschlüssel.
    Ob es Fouestang nun passte oder nicht, sie wollte unbedingt über das, was sie gerade erlebt hatte, nachdenken. Der Meister der Hypnose hatte ihr geraten, die Lösung in sich selbst entstehen zu lassen und sie … Was hatte sie gesehen? Einen alten Herrn mit einem ihr wohlbekannten Gesicht.
    *
    Das Archiv von Sainte-Félicité war nach einer Überschwemmung ausgelagert worden und befand sich nun im Untergeschoss der Zentralverwaltung. Mit seinem Generalschlüssel gelangte Nino problemlos dorthin. Er ging den zementgrauen Gang entlang, der mit defekten Krankentragen und Stationswagen vollgestellt war, tippte den Türcode ein und betrat den riesigen Saal, in dem deckenhohe weiße Regale aneinandergereiht waren. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, zog er die Akten aus seiner Tasche. In jeder Stellage waren die Unterlagen von zwei Jahren untergebracht. Die erste Krankenakte war mit einem blauen Stempel »Juni 2000« und dem Namen »Clara Marais« versehen. Nino brauchte eine Weile, bis er das richtige Regal und den Buchstaben »M« gefunden hatte. Er legte die Akte in das leere Fach. Als er Julien Daumas’ Krankenblatt in der Hand hielt, um es einzusortieren, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen.
    Die Akte war sehr dünn. Es handelte sich lediglich um zwei Blätter. Der Krankenpfleger las den

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