Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
Tagesordnung übergehen, einfach weiter seinen Job machen, als wenn nichts gewesen wäre, und den Kopf in den Sand stecken. Das war die am wenigsten riskante Variante und bestimmt auch die schlaueste. Warum Staub aufwirbeln und seinen Job riskieren? Für Cyrille? Nein. Für eine Frau, die nur an ihre Karriere gedacht und die ihn wie ein Papiertaschentuch benutzt und weggeworfen hatte? Nein! Um in der medizinischen Welt für Gerechtigkeit zu sorgen? Um Rudolph Manien in die Enge zu treiben? Er glaubte schon lange nicht mehr, dass in der ärztlichen Hierarchie Gerechtigkeit oder Transparenz möglich waren. Nichts zu unternehmen bedeutete hingegen, dass er bis zum Ende seiner Laufbahn mit seinem Geheimnis und seinem schlechten Gewissen würde leben müssen. Nino wusste nicht, ob er dazu imstande wäre. Er war nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker, und Feigheit war ihm zuwider. Als sein Espresso gebracht wurde, war er im Begriff, einen Kompromiss mit sich selbst zu schließen.
    *
    In der Bar herrschte um diese Zeit Hochbetrieb, und Marie-Jeanne war gezwungen, laut zu sprechen. Sie hielt ihr Bierglas umklammert und verteidigte ihr Anliegen.
    »Du brauchst unbedingt eine Assistentin, ich kümmere mich um all deine Termine und um die kommerzielle Seite deiner Arbeit. Das wird dir das Leben gehörig erleichtern, du wirst sehen. Und außerdem kommt Geld in die Kasse, ich werde nämlich auch deine Verträge aushandeln, darin bin ich unschlagbar!«
    Sie lächelte ihn strahlend an. Wenn sie wusste, was sie wollte, walzte sie alle Hindernisse nieder wie ein Panzer. Julien, der ihr gegenübersaß, reagierte nicht. Die Entschlossenheit der jungen Frau fand er zwar betörend, ebenso ihr hübsches Katzengesicht, doch er war ein einsamer Wolf, und sein Leben bestand aus Kommen und Gehen, aus Fluchten und spontanen Entscheidungen. Er wusste nie im Voraus, was er in der nächsten Stunde tun würde. Und außerdem hatte er noch sein »Problem«, das jederzeit auftreten und alles, was ihm lieb und teuer war, zerstören konnte. Wollte er sich in dieser Situation mit einem Mädchen belasten? Er war noch zwei weitere Tage auf ihre Gastfreundschaft angewiesen, dann würde er, ohne eine Adresse zu hinterlassen, einfach verschwinden.
    »Wir reden übermorgen noch mal darüber, wenn du möchtest«, meinte er und streichelte zärtlich ihre Hand.
    Er sagte das mit einem Augenzwinkern, und Marie-Jeanne entspannte sich. Er blieb also noch zwei Tage. Eine ganze Ewigkeit! Lächelnd trank sie einen Schluck Bier. Der gut aussehende, dunkelhaarige Mann, der an der Theke eine Kleinigkeit gegessen hatte, bezahlte und stand auf. Zu anderen Zeiten hätte sie nicht gezögert, ihn anzusprechen, um mit ihm einen Kaffee zu trinken. Doch nun hatte sie gerade den Fang ihres Lebens gemacht, den sie auf keinen Fall aufgeben wollte.
    Gestärkt und mit seiner Entscheidung zufrieden, verließ Nino die Bar, folgte der Rue Vaugirard etwa hundert Meter und bog dann in die Rue Dulac ein.
    *
    Geduldig wartete Isabella DeLuza darauf, dass Frau Doktor Blake sie hineinbat. Cyrille saß in ihrem Sprechzimmer und warf einen Blick auf die kleine Wanduhr. Sie beschloss, sich noch fünf Minuten für ihre Recherchen zu genehmigen, und machte sich wieder an die Arbeit. Auf dem Drucker lagen bereits rund fünfzig Seiten. Die meisten davon stammten von Websites mit internationalen medizinischen Publikationen. Der Hauptautor war stets »Professor Sanouk Arom« von der neurologischen Station des Brain Hospital in Bangkok. Sie überflog die Texte, stellte aber rasch fest, dass ihr das meiste bekannt war. Die Zeitungsausschnitte waren ergiebiger. Vor allem ein Artikel aus der Bangkok Post mit der Überschrift »Er gab den verlorenen Kindern ihr Gedächtnis zurück« erregte ihre Aufmerksamkeit.
     
    Professor Sanouk Arom hat die Ehrenpräsidentschaft der Volunteer Group of Child Development – VGCD – übernommen, für die er ehrenamtlich tätig werden wird. Sein Anliegen ist es vor allem, Straßenkindern zu helfen, die unter traumatisch bedingter Amnesie leiden.
    Die im Jahr 2001 in Chiang Mai gegründete Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, in ganz Thailand Auffangstationen für allein lebende Kinder zu schaffen, bevorzugte Opfer von Drogenhändlern und Touristen aller Nationalitäten auf der Suche nach Minderjährigen. Die Gründerin der VGCD, die achtunddreißigjährige Kru Nam und ihre Freunde – engagierte und tatkräftige Menschen –, freuen sich, dass Professor Arom

Weitere Kostenlose Bücher