Begraben
Bericht durch und machte große Augen. Was ist denn das für ein Unsinn? Er las den Bericht noch zweimal, um sicherzugehen, holte dann einen Stift aus seiner Tasche und notierte sich etwas auf seiner Zigarettenpackung. Nachdenklich stellte er die Akte an ihren Platz. Als Nächstes wollte er die Mappe von »Maurice Larouderie« einsortieren, der im Februar 2001 entlassen worden war, überlegte es sich aber anders, öffnete sie und las die letzten Zeilen. Verflucht … das kann ja wohl nicht wahr sein. Er überflog das vierte Dokument und kam zum gleichen Ergebnis. Um jeden Zweifel auszuräumen, ging er zurück, um noch mal einen Blick in die Krankenakte »Clara Marais« zu werfen. Das Gleiche. Und plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er begriff, dass Cyrille auf ein Problem gestoßen war. Ihre Amnesie konnte kein Zufall sein, und vermutlich befand sie sich in Gefahr.
22
Cyrille brauchte für den Heimweg deutlich länger als für die Hinfahrt, da sowohl die Autobahn als auch der Périphérique stark befahren waren und die Autos wegen des Regens langsamer fuhren. Sie schaltete die Scheibenwischer ein und suchte im Radio den Verkehrsfunk. In den Nachrichten war nicht mehr die Rede von »verstümmelten Tieren«. Nach einigen Umwegen wegen Straßenbauarbeiten gelangte sie schließlich in die Rue Vaugirard.
Es war Markttag, und sämtliche Fahrzeuge parkten kreuz und quer in zweiter, ja sogar in dritter Reihe. Die Rue Dulac war nur noch rund hundert Meter entfernt. Sie ordnete sich auf der rechten Spur ein, doch genau in dem Moment kam ein Wagen der Müllabfuhr aus einer kleinen Seitenstraße und hielt direkt vor ihrem Mini an. Mist! Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad. Nun saß sie definitiv fest! Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis die Müllabfuhr die zehn Hausnummern, die sie noch von der Rue Dulac trennten, abgearbeitet hätte. Doch bis zu ihrem ersten Termin hatte sie noch Zeit. Gereizt umklammerte sie das Lenkrad. Aus jeder Situation eine positive Lektion machen! Sie war hier, konnte weder vor noch zurück, weder parken noch aus dem Auto aussteigen. Daran war nun mal nichts zu ändern! Aber sie könnte die Zeit nutzen, um sich zu entspannen und nachzudenken. Bei ihrer Hypnosesitzung hatte sie Professor Arom heraufbeschworen. Bei dem alljährlich stattfindenden Kongress in Bangkok hatte sie, soweit sie sich erinnerte, nur ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt. Das Gesicht des Professors vergaß man nicht so leicht. Ein weiser alter Mann mit weißem Haar, dessen linke Gesichtshälfte nach der Entfernung eines Gehirntumors gelähmt war.
Seither konnte der Professor beim Sprechen nur den rechten Teil des Mundes bewegen. An ihn hatte sie gar nicht gedacht! Erst unter Hypnose hatte ihr ihre Intuition den richtigen Weg weisen können: Sanouk Arom war einer der weltweit führenden Spezialisten auf dem Gebiet der Amnesie. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte er die Theorie der labilen Erinnerungen aufgestellt. Das heißt, Erinnerungen waren nicht ein Leben lang irgendwo im Gehirn festgeschrieben, sondern wanderten auf mobile und diffuse Weise im Neuronennetz herum und konnten jederzeit abgerufen werden. Sobald man sie sich ins Bewusstsein rief, wurden sie erneut fragil.
Bei seinen Versuchen mit Mäusen hatte Arom sogar bewiesen, dass es genügte, die Erinnerung im Moment ihrer Entstehung zu beeinträchtigen, um sie verschwinden zu lassen. Nach jahrelanger Forschungsarbeit in den USA war Sanouk Arom in seine Heimat Thailand zurückgekehrt und leitete nun in Bangkok die neurologische Station des größten privaten Krankenhauses. Statt Tierversuchen widmete er sich inzwischen der klinischen Forschung. Seine letzten Arbeiten, die in Nature Neurology und im Journal of Neuroscience veröffentlicht worden waren, beschäftigten sich mit Fällen von traumatischer Amnesie bei Kriegsveteranen. Dank intrakranieller Stimulation mittels Elektroden, die in bestimmten Stellen des Gehirns implantiert wurden, war es Professor Arom bei zwei Patienten gelungen, Teile der verdrängten Erinnerung zu reaktivieren.
Cyrille schlug mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad. Sie musste unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen. Fachlich war er brillant. Was ihren Fall betraf, so könnte er ihr zumindest neue Impulse liefern. Zudem war er Ausländer und somit nicht in der Lage, in ihrer näheren Umgebung etwas auszuplaudern. Schließlich arbeitete er in Bangkok, und Cyrille konnte ihn in aller Diskretion nächste
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