Begraben
Woche während des Kongresses aufsuchen. So viele Vorteile waren in ihren Augen ein positives Signal, dem zu folgen sie beschloss.
Ihr Blick schweifte zu den Marktständen hinüber, an denen Jacken und Schuhe verkauft wurden, und weiter zum Café Le Necker. An einigen Tischen hinter der Glasscheibe saßen ein paar Männer. Die meisten von ihnen lasen Zeitung. Eine Frau in beigefarbenem Kostüm blätterte in ihren Notizen. Im Viertel war es geschäftig wie immer.
Das Müllauto bewegte sich ein Stück vorwärts, Cyrille legte den ersten Gang ein, fuhr fünf Meter und musste wieder warten. Es regnete heftiger. Sie merkte, wie allmählich die Kälte durch das Fenster ins Wageninnere kroch, schaltete nach kurzem Zögern die Heizung ein und genoss den warmen Luftzug an ihren Beinen. In genau dem Augenblick registrierte sie in dem Café einen jungen Mann, der in einer Zeitschrift las. Als er den Kopf hob, gefror ihr das Blut in den Adern. Keine hundert Meter vom Centre Dulac entfernt saß Julien Daumas seelenruhig an einem der Tische.
*
Cyrilles Adrenalinspiegel schoss in die Höhe und versetzte augenblicklich all ihre Sinne und jede Faser ihres Körpers in Alarmbereitschaft. Mit dem Handrücken wischte Cyrille ihre Windschutzscheibe frei. Ich glaub, ich träume, das kann doch nicht wahr sein! Sie konnte nichts mehr erkennen. Die Scheibenwischer glitten über das Glas, und Cyrille kniff die Augen zusammen. Der Stuhl, auf dem Julien Daumas gesessen hatte, war leer. Das Müllauto setzte sich wieder in Bewegung. Sie fuhr zwei Meter. Daumas hatte sich in Luft aufgelöst.
Im nächsten Moment stand er vor dem Café, die Hände in den Taschen vergraben, die Kapuze seiner blauen Surferjacke über das blonde Haar gezogen. Sie begegnete seinem finsteren und eindringlichen Blick, der ihr so vieles sagen wollte. Er starrte sie wie gebannt an, ohne sich vom Fleck zu rühren. Cyrilles Magen krampfte sich noch mehr zusammen. Lange musterten sie einander reglos durch den Regenvorhang. Dann machte Julien mit entschlossener Miene einen Schritt auf ihr Auto zu. Cyrille entriegelte die Türen. Es war höchste Zeit, dass sie miteinander redeten und sie ihn davon überzeugte, sich helfen zu lassen. Doch vor der Stoßstange blieb Julien abrupt stehen, sein Blick war auf die Wagen hinter ihr gerichtet. Ängstlich sah er Cyrille an und machte auf dem Absatz kehrt. Im Laufschritt schlängelte er sich zwischen den Autos hindurch über die Straße und lief die Treppen zur Metrostation hinab.
»Monsieur Daumas!«, rief Cyrille und klopfte aufgeregt gegen die Windschutzscheibe, um ihn aufzuhalten, doch er lief, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen. Cyrille Blake, die in ihrer Sardinenbüchse gefangen war, schaltete den hinteren Scheibenwischer ein, um herauszufinden, wer oder was den jungen Mann in die Flucht geschlagen hatte. Ratlos drehte sie sich wieder nach vorn und sah einen großen Mann in einer roten Jacke mit weißen Ärmeln zur Metrostation rennen. Er rempelte eine alte Dame an, die mit ihrem Einkaufswagen vom Markt kam, und machte eine Drehung, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei fiel Cyrille auf, dass er nur mit einem Auge sehen konnte, über dem anderen trug er eine Klappe.
23
Nino war ein ausgezeichneter Koch und ein ausgemachter Gourmet. Ein zusammengeschustertes oder misslungenes Essen war stets eine kleine Katastrophe für ihn, deshalb brachte er sich seine Mahlzeiten lieber von zu Hause mit und wärmte sie in der Klinik auf. Er hatte Hunger und betrat eine Bar in der Rue Vaugirard, ohne genau zu wissen, was er sich bestellen könnte. Es war fast fünfzehn Uhr, und er war sogar bereit, sich mit einem Sandwich zu begnügen. Er setzte sich an die Theke, studierte die Speisekarte und bestellte schließlich ein Brot mit Ziegenkäse und Serrano-Schinken. Dazu passte ein Glas Rotwein und später ein Espresso.
Wenn Nino Entscheidungen zu treffen hatte, musste er unbedingt etwas essen. Er biss mit Appetit in sein Brot und studierte dabei die Etiketten der vor ihm aufgereihten Alkoholika. Ein paar Tische weiter waren eine rothaarige junge Frau und ein blonder Mann in ein angeregtes Gespräch vertieft. Nino achtete nicht weiter auf sie, erkannt hätte er sie ohnehin nicht. Marie-Jeanne, Cyrilles Assistentin, hatte er noch nie gesehen, und Julien Daumas war vor zehn Jahren ein Patient unter vielen gewesen.
Nino kaute den Schinken – vakuumverpackt, da war er sich sicher – und dachte nach. Er konnte zur
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