Begraben
Stimme.
»Denken Sie an eine Situation, in der Sie sich wohlfühlen. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Wo sind Sie?«
»Bei mir zu Hause.«
»Wer ist bei Ihnen?«
»Niemand.«
»Was machen Sie?«
»Ich spiele Bandoneon.«
Ein Lächeln huschte über Cyrilles erschöpfte Gesichtszüge. Sie begann, eine Melodie zu summen. Die Stimme fuhr fort:
»Denken Sie nun an Sainte-Félicité, lassen Sie das Bild vor Ihrem geistigen Auge entstehen. Sie fühlen sich weiter gut.«
»Ich sehe das Fernsehzimmer auf Station B.«
»Macht Sie etwas wütend?«
Cyrilles Nasenflügel bebten.
»Ja, die Stille. Keiner sagt etwas. Im Fernsehen wird lautstark die Tour de France übertragen, und niemand reagiert, weil alle von den Beruhigungsmitteln ganz benommen sind. Niemand sieht nach den Patienten. Es ist nur wichtig, dass sie ruhig sind.«
»Welche Farbe hat Ihr Zorn.«
»Schwarz. Ich will dem leitenden Arzt sagen, dass er zu viel Neuroleptika und Schlafmittel verabreicht, doch ich bin nur Assistenzärztin und habe lediglich das Recht, zu schweigen.«
»Laden Sie ihn ein, uns zu begleiten. Sie fühlen sich noch immer gut.«
»Er steht genau vor mir.«
»Sagen Sie ihm, was Sie von ihm halten.«
»Sie betäuben die Patienten, um sie ruhigzustellen, Sie ertragen die Schreie auf Ihrer Station nicht, nur ein stiller Kranker ist ein guter Kranker, das widert mich an!«
»Sie fühlen sich jetzt besser. An die Stelle Ihres Zorns lassen Sie nun innere Ruhe treten. Wenn Sie künftig den Namen Sainte-Félicité hören oder aussprechen, fühlen Sie sich gut, friedlich.«
»Ja.«
»Sie sitzen vor Ihrem Computer, und alles ist einfach, die Worte plätschern wie ein kühler Fluss. Was ist?«
Cyrilles Kinn bebte.
»Ich fühle mich traurig.«
»Dieses Gefühl ist nur von kurzer Dauer, es geht vorüber, und stattdessen kehrt innere Ruhe ein. Rufen Sie sich eine andere Situation in Erinnerung. Eine angenehme.«
»Eine angenehme Situation.«
»Ja, entspannen Sie sich und lassen Sie die Lösung in sich entstehen.«
Cyrille ließ sich erneut fallen, und auf einmal fand sie sich an einem Strand sitzend wieder …
*
Wenn es etwas gab, was Nino Paci hasste, dann, wenn man ihn für dumm verkaufte. Und innerhalb von vierundzwanzig Stunden war ihm das nun schon zum zweiten Mal passiert. Den Riemen der Umhängetasche über der Schulter, lief er die Treppe zur Metrostation Tolbiac hinab. Zuerst Cyrille Blake, die – von den Toten auferstanden – Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, damit er ihr half. Wie ein blutiger Anfänger hatte er sich einwickeln lassen, ein wenig aus alter Freundschaft, ein wenig aus Mitleid. Und nun, wo sie bekommen hatte, was sie wollte, nahm sie seine Anrufe nicht an! Wie konnte ich nur so dämlich sein!
Nino hielt den Fahrausweis über das Lesegerät. Er musste sich wieder beruhigen. Er nahm die Linie 10, um ins 15. Arrondissement zu gelangen. Auf dem Bahnsteig stand etwa ein Dutzend Fahrgäste, darunter eine dunkelhaarige Frau im Kostüm, die ihm einen unmissverständlichen Blick zuwarf. Am liebsten hätte er ihr zugerufen: »Vergiss es, ich bin schwul.« Der andere, der ihn zum Narren hielt, war Manien.
Dieser Idiot hatte vertrauliche medizinische Unterlagen irgendwo gehortet, obwohl das strengstens untersagt war. Das Problem war, wenn die Angehörigen eines Patienten aus irgendeinem Grund dessen Krankenakte anforderten und das entsprechende Fach im Archiv leer war, würde dies auf ihn, den Chefkrankenpfleger, zurückfallen, denn Ablage und Archivierung gehörten zu seinen Aufgaben. Colette, eine einfache Krankenschwester, müsste sich deswegen keine Sorgen machen, doch Manien hätte keine Skrupel, sofort ihn, Paci, zu beschuldigen. Eine verlorene Krankenakte war schließlich keine Bagatelle. Das konnte übel ausgehen, wenn die Familie einen Prozess anstrengte. Kurz, dieser Mistkerl brachte ihn in ernste Schwierigkeiten. Nino hielt Manien für einen großen Manipulator und ein Schwein, doch im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hatte er keine Angst vor ihm. Der Chefkrankenpfleger besaß seinen eigenen Ehrenkodex und hatte nie gezögert, gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen.
An der Station Javel stieg er aus und verließ raschen Schrittes den Bahnhof, um nach Sainte-Félicité zu gelangen. Heute Vormittag hatte er zwar eigentlich frei, aber egal! Er konnte den Tag sowieso nicht genießen, wenn ihn etwas quälte. Er durchquerte das psychiatrische Krankenhaus bis zur Station B. Mit seinem
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