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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Milch in den Kaffee, den er schlückchenweise trank. Wirklich ein alter Kauz, dachte Cyrille, doch sobald er einen anblickte, wusste man, dass man es mit einem außergewöhnlich intelligenten Menschen zu tun hatte. Vor fünfzehn Jahren, kurz vor seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, hatte er »die Fronten gewechselt«, hatte sich von den Anhängern des Unbewussten und der Psychoanalyse mittels Freier Assoziation losgesagt und eine brillante Karriere als Hypnotherapeut begonnen. Inzwischen galt er in Frankreich als Meister der Ericksonschen Hypnotherapie und wurde von der jungen Ärztegeneration geachtet, um nicht zu sagen, glühend verehrt. Eine Sitzung bei ihm kostete zweihundert Euro pro halbe Stunde, und er war, was seine Patienten anging, sehr wählerisch.
    Seine Bücher gehörten zu Cyrilles persönlicher Bestenliste. Wie der Meister selbst favorisierte auch sie kurze, wirkungsvolle Therapien.
    Da sie Fouestang zu so früher Stunde gestört hatte, wollte sie ihm nicht mit belanglosem Geplauder die Zeit stehlen. Er würde es sicher vorziehen, wenn sie direkt zur Sache käme.
    »Ich will es kurz machen«, sagte sie. »Ich habe bestimmte Abschnitte meines Lebens vergessen und hätte gerne, dass Sie mir helfen.«
    »Na, dann haben Sie den Weg umsonst gemacht.«
    »Ich weiß, es ist nicht möglich, durch Hypnose vergessene Erlebnisse wieder zurückzuholen.«
    »Und alle, die das Gegenteil behaupten, sind Scharlatane!«
    »Was ich aber gerne tun würde, ist, mir diese Vergangenheit wieder anzueignen, notfalls auch nur lückenhaft, um herauszufinden, woher meine Blockade rührt.«
    Fouestang nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Diese junge Ärztin war nicht dumm und hatte die Botschaft begriffen, die er in seinen Büchern zu vermitteln versuchte: Sich in die Ereignisse seines Lebens zurückversetzen, um sich darüber klar zu werden, woher das Problem kam, unter dem man litt.
    »Was genau ist Ihr Problem?«
    »Wie soll ich sagen …«
    Es kam nicht infrage, einen Kollegen, noch dazu einen Konkurrenten, in aller Ausführlichkeit über das volle Ausmaß ihres Dilemmas zu informieren. Das wäre in beruflicher Hinsicht reiner Selbstmord. Daher hatte sie sich auf dem Weg hierher bereits eine kleine Geschichte zurechtgelegt.
    »Beim Schreiben meines zweiten Buches habe ich eine Schreibblockade entwickelt, und allmählich wird es kritisch. Meine Ängste sind derart stark, dass ich nicht mehr in der Lage bin, weiterzuschreiben. Doch mein Verleger will unbedingt nächsten Monat den ersten Entwurf sehen. Meine Angst rührt daher, dass mein neues Buch persönlicher ist und von meinen eigenen Erfahrungen in der Psychiatrie berichtet. Und auf einmal merke ich, dass ich mich kaum an mein letztes Jahr in Sainte-Félicité erinnern kann.«
    »Wenn Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, nehmen Sie doch bitte in einem der Sessel Platz.«
    Diese waren Unikate, aus einem einzigen Stück Holz gearbeitet und ergonomisch geformt, was Design und Komfort anging – wahre Meisterwerke. Als Cyrille es sich bequem machte, verschmolz ihr Körper förmlich mit dem lederbezogenen Sitz.
    »Das ist mein Steckenpferd«, erklärte Fouestang. »Ich zeichne die Möbelstücke, und ein befreundeter Schreiner fertigt sie für mich an. Ich bin auf der Suche nach der exakten, der perfekten Form, damit der Körper sich vollkommen entspannt.«
    Cyrille beglückwünschte ihn zu seinem Entwurf, lehnte sich behaglich zurück und stützte die Arme auf. Da sie die Hypnotherapie auch selbst praktizierte, war sie natürlich in der Lage, sich rasch in die richtige Stimmung zu bringen. Fouestang manövrierte seinen Rollstuhl so, dass er ihr direkt gegenübersaß. Genau in dem Moment klingelte ihr Handy. Nino. Das Ganze war Cyrille unglaublich peinlich, sie schaltete das Mobiltelefon sofort aus und entschuldigte sich. Fouestang schnalzte verärgert mit der Zunge.
    »Konzentrieren Sie sich bitte auf Ihre Atmung«, sagte er. Seine Stimme war tief und kräftig, jedoch völlig neutral, der monotone Singsang sollte die Wachsamkeit des Gehirns außer Kraft setzen. »Sie fühlen sich gut.«
    Cyrille konzentrierte sich auf seine Stimme, die ihr sagte, sie solle atmen, nur an ihre Atmung denken und daran, dass ihre Beine immer schwerer würden. Ihre Füße schienen im Boden zu versinken, ihre Arme lasteten auf den Lehnen, und ihr Kopf drückte sich in das Lederkissen. Die Augenlider halb geschlossen, saß sie da, ihr Körper war schwer, doch ihr Geist folgte der monotonen

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