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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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verloren schaute Cyrille sich um. Das ist nicht der passende Moment, um aufzugeben. Sie betrachtete wieder ihre Hände. Hatten sie tatsächlich ihrem Kater die Augen ausgestochen? Sie unterdrückte ein Schluchzen. Ihrer Niedergeschlagenheit konnte sie nur durch einen Adrenalinstoß begegnen. Genau diesen Rat gab sie bestimmten Patienten: »Wenn die Angst hochsteigt und Sie spüren, dass Sie der Katzenjammer überkommt, zwingen Sie sich, etwas sehr Aufregendes oder Ungewöhnliches zu tun.«
    Adrenalin war das beste natürliche Gegenmittel gegen die Depression, es überflutete das Gehirn und regte es an. Sie ermutigte sich selbst, kalt zu duschen oder etwas völlig Neues zu machen, einen unbekannten Nachbarn anzusprechen … Kurz, etwas zu tun, was die Maschinerie bis zum nächsten Alarm wieder ankurbeln würde. Cyrille nahm ihr Reise-Bandoneon aus ihrem kleinen Koffer, löste die Bälge und öffnete das Fenster zur Straße mit ihrem Stimmengewirr. Sie atmete tief ein und begann einen wilden Paso Doble zu spielen.
    *
    Mit quietschenden Reifen stoppte Tony sein Fahrrad auf dem Kies vor der Eingangstür der Station B. Er sicherte das Hinterrad mit einem Fahrradschloss und nahm seinen Helm ab, während er die Klinik betrat. Als er bat, den Chefkrankenpfleger zu sprechen, lächelte ihn eine Krankenschwester an und wies auf die Tür hinter sich. Nino stand mit einer Zigarette draußen, an die grau verputzte Wand gelehnt. Er stieß den Rauch aus, der in der kalten Luft eine Wolke bildete.
    »Ich dachte, du hättest aufgehört?«
    »Salut. Ja, ja, aber nicht heute.«
    Nino sah noch immer bedrückt und traurig aus.
    »Geht’s dir nicht gut?«
    »Nein. Mir geht alles auf die Nerven. Aber danke, dass du gekommen bist.«
    »Was soll ich denn tun?«
    »Hm … ich weiß nicht, ich weiß es nicht mehr.«
    »Was ist los?«
    Die Zigarettenspitze glühte.
    »Ich bin an Maniens Computer gewesen«, erklärte Nino. »Da ist nichts drauf. Keine Spur von der Operation R irgendwas. Er hat alles gelöscht.«
    Der Krankenpfleger schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. Er durfte nicht lauter sprechen, aber er erstickte beinahe an seiner Wut.
    »Verdammte Scheiße. Dieses Arschloch hat mit meinen Patienten irgendeine Sauerei angestellt, und ich weiß nicht, was!«
    »Du hattest damit nichts zu tun, mein Schatz.«
    Ein vernichtender Blick ließ Tony verstummen.
    »Sorry. Aber es stimmt doch, du kannst nichts dafür, du warst damals bei einer Fortbildung. Man kann dir nichts vorwerfen.«
    »Das Problem ist, dass man ihnen hier etwas angetan hat, und ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn ich weiß, was.«
    »Okay, fangen wir noch mal von vorn an. Du hast in seinem Computer und seinen Akten nichts gefunden.«
    »Nichts.«
    Tony atmete tief die belebende Herbstluft ein und ging ein paar Schritte durch das trockene Laub, das sich unter der Kastanie angehäuft hatte. Er wühlte mit der Spitze seiner Sportschuhe darin herum, dann hob er plötzlich den Kopf.
    »Ihr habt doch alle neue Computer bekommen.«
    »Wie bitte?«
    »Erinnerst du dich nicht? Vor fünf Jahren habe ich hier die gesamte EDV-Anlage ausgetauscht.«
    »Aber ja, du hast recht!« Ninos Züge hellten sich auf, um sich gleich wieder zu verfinstern. »Das bringt uns auch nicht weiter.«
    »Das ist nicht gesagt. Ich weiß, wer die alten Kisten geerbt hat. Man könnte sie vielleicht noch aushorchen.«
    *
    Die fünf PCs der Station B waren an die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Necker gegangen, die damals gebrauchte Geräte suchte, um einen Computerraum einzurichten. Tony hatte sich ohne Bezahlung um die Installation gekümmert. Sein jüngster Bruder hatte wegen Depressionen eine Zeit lang dort zugebracht, und da man ihn gut behandelt hatte, war dies Tonys Art gewesen, dafür zu danken.
    Der Informatiker schwang sich auf sein Mountainbike, um zur Klinik Necker zu radeln. Der Verkehr hielt sich in Grenzen. Er fuhr an der Rue Dulac vorbei und musste an Cyrille denken. In welcher Klemme sie wohl steckte? Tony wich einem Motorroller aus und fuhr auf Höhe der Metrostation Falguière links auf den Bürgersteig. Es belastete ihn, Nino in einem solchen Zustand zu sehen. Nino ertrug es nicht, dass er seine Patienten vor den Machenschaften seines Chefs nicht hatte schützen können. Heftige Schuldgefühle nagten an ihm, und er versuchte, etwas wiedergutzumachen. Tony betrat die Kinderklinik und lehnte sein Rad an ein altes Pförtnerhäuschen. Er sicherte es

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