Begraben
Mal geküsst hatten sie sich an dem Abend, als es ihnen gelungen war, dank eines Meseratrol-Derivats traumatisierte Mäuse zu »heilen«. Es war schon spät, nur sie beide waren noch im Labor, die Erschöpfung und der Champagner im Büro des Professors hatten ein Übriges getan.
Benoît Blake spürte, wie sich seine Kehle zusammenschnürte. Er dachte an diese Zeit wie an sein verlorenes Paradies. In den folgenden Jahren hatte er nie mehr zu einer vergleichbaren Kreativität zurückgefunden. Mit Cyrille als Praktikantin an seiner Seite hatte er seine wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Hypothesen niedergeschrieben. Die Gedanken fügten sich wie von selbst aneinander, als habe eine unsichtbare Hand seine intellektuellen Fähigkeiten aktiviert. Sein Unfall hätte allem ein Ende setzen können. Doch ganz im Gegenteil, ihre Verbundenheit war noch gewachsen, nachdem der Neurologe ihm angekündigt hatte, er werde ein kleines Handicap zurückbehalten. Durch die Läsion des Frontallappens entstünde eine Schreibstörung, die an Legasthenie erinnerte – auf den ersten Blick amüsant. Für seine Tätigkeit war es jedoch eine Katastrophe. Ohne Cyrille hätte er es nie geschafft, weiterhin zu publizieren. Sie hatte sich einfach neben ihn gesetzt und ihm geduldig geholfen. Natürlich hatte er Fortschritte gemacht, aber seit nunmehr elf Jahren las und korrigierte sie alles, was er mühsam verfasste, und brachte die Buchstaben in die richtige Reihenfolge. Er musste zugeben, ohne sie hätte er niemals das erreicht, was er bisher erreicht hatte. Sie war wortwörtlich sein Spiegel geworden, seine Leibwache, seine Stütze, ohne die er gestürzt wäre.
Und all das sollte durch einen Fehler der Vergangenheit hinweggefegt werden? Es war zu spät, die hinterhältige Schlange hatte sich einen Weg in sein Gedächtnis gebahnt, rollte sich um seinen Kopf und wollte nicht mehr loslassen. Der alte Forscher schnappte nach Luft. Dieser Daumas hatte alles verdorben. Benoît hatte zwar nicht mehr die Energie wie vor zehn Jahren, aber sein Biss war noch intakt. Für ihn war die Sache klar: Er würde es nicht zulassen, dass jemand sein Leben und seine Karriere zerstörte. Er liebte Cyrille, vor allem jedoch brauchte er sie, um seine Arbeit zu Ende zu bringen. Sie musste so schnell wie möglich an seine Seite zurückkehren, seine Ängste lindern und die Arbeit wieder aufnehmen.
Er richtete sich auf und ging mit schweren Schritten zum Sekretär im Salon. Er öffnete eine Schublade und beugte sich nach vorn; sein Magen schmerzte. Er kramte, bis er fand, was er suchte. Sein altes Notizbuch.
32
Es war sieben Uhr in Paris, als Nino Paci sich eine zweite Tasse schwarzen Kaffees ohne Zucker einschenkte und in sein zweites mit Erdnussbutter bestrichenes Brot biss. Tony, der mit nacktem Oberkörper gerade fünfzig Liegestützen absolviert hatte, nörgelte.
»Du isst zu viel Zucker und treibst zu wenig Sport. Du wirst noch richtig fett. Nicht zu vergessen das Couscous, das du gestern verdrückt hast …«
»Es hilft mir beim Nachdenken«, erwiderte Nino schlecht gelaunt.
Der Krankenpfleger war morgens nie gut drauf, und noch weniger, wenn er nach einigen freien Tagen wieder zur Arbeit musste. Seine Gesichtszüge und seine Stimme entspannten sich erst, nachdem er die Zeitung gelesen, lange heiß geduscht und viel Kaffee getrunken hatte. Tony wusste das alles längst, verspürte jedoch morgens das dringende Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten, und blitzte häufig ab. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, am nächsten Morgen einen neuen Versuch zu starten. Nino vertiefte sich in die Zeitung.
»Kann ich dir bezüglich Cyrille in irgendeiner Weise helfen?«, fragte Tony in der Hoffnung, Nino würde endlich seine Zeitung beiseitelegen.
Der Krankenpfleger hob endlich den Blick.
»Ja … ich glaube, das könntest du tatsächlich. Ab wann hast du heute Nachmittag frei?«
»Ich habe vormittags einen Termin bei einem Kunden, dem ich einen neuen Server installiere. Damit dürfte ich spätestens um fünfzehn Uhr fertig sein. Danach stehe ich ganz zu deiner Verfügung.«
»Kannst du zu mir ins Sainte-Félicité kommen?«
»Okay.«
»Bring dein gesamtes Werkzeug mit.«
»Was soll ich tun?«
»Alte Akten ausgraben.«
Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Nino.
In dem Moment, als Nino das Gelächter im Personalaufenthaltsraum hörte, wusste er, dass Manien die Station verlassen hatte. Kaum war er weg, entspannten sich die
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