Begraben
schnipste mit den Fingern. Gut, er hatte also Pech gehabt. Nun blieb ihm nur noch, einen Schraubenzieher aus seiner Tasche zu holen.
*
Es war neunzehn Uhr, und Cyrille Blake erinnerte sich, etwas weiter oben in der Khao San Road einen Massagesalon gesehen zu haben. Genau das brauchte sie jetzt vor einer neuen Nacht voller Ängste. Sie schloss die Tür ihres Zimmers ab und ging ins Erdgeschoss hinunter, zögerte und legte einen Zwischenstopp im Internetcafé ein. Ein wenig nervös ging sie wieder auf die Startseite von Gmail und gab ihre neuen Login-Daten und das Passwort ein. Zuerst erschien eine kleine Sanduhr, nach wenigen Sekunden befand sie sich dann im neuen Account von »Benoît Blake«. Cyrille empfand ein vages Schuldgefühl. Sie, die nie auch nur ein Bonbon im Geschäft hatte mitgehen lassen und jede Kassiererin auf zu viel herausgegebenes Geld aufmerksam machte, war dabei, sich widerrechtlich die Identität ihres Mannes anzueignen. Sie klickte auf »Neue Nachrichten« und überlegte kurz, doch sobald sie sich entschieden hatte, war es ganz einfach. Da sie die schriftlichen Arbeiten ihres Mannes so oft Korrektur gelesen hatte, konnte sie blind einen Text mit seinen Worten formulieren. Sie entschloss sich für eine Kurzform.
Lieber Rudolf, ich erlaube mir, Dir zu schreiben, denn ich stehe vor etwas, was man allgemein als Problem bezeichnet. Meine Frau hat die Existenz der Akte 4GR14 entdeckt. Was soll ich tun? Freundschaftlich, B. Blake.
In die Zeile »Empfänger« schrieb Cyrille die E-Mail-Adresse von Rudolf Manien. Das war ganz einfach, da alle E-Mail-Adressen in der Klinik Sainte-Félicité nach demselben Muster erstellt wurden, dem Vornamen und dem Familiennamen mit Punkt dazwischen, gefolgt von der Adresse @ap-hp-stefelicite.fr.
Sie biss sich auf die Lippen, als sie die Nachricht nochmals las. Sie war einfach und direkt und verlangte eine Antwort. Der totale Bluff. Sie atmete tief ein und klickte auf »Senden«.
*
Cyrille betrachtete einen Augenblick lang die bunten Neonlichter, die an den Fassaden blinkten. Die Techno-Musik ertönte in voller Lautstärke, und unzählige Menschen drängten sich auf Gehwegen und Straße. Etwa zwanzig Meter vom Hotel entfernt hüllte das riesige Aushängeschild »Paradise Massage« den Passanten in ein fluoreszierendes Rosa ein. Zwei Frauen saßen auf einem Hocker vor einer Preisliste und sprachen die Passanten lächelnd an. Cyrille näherte sich. Head massage 20 Baht, Foot massage 25 Baht …
Die Jüngere der beiden erhob sich eilig, freundlich lächelnd und äußerst beflissen. Der Kundenandrang schien sich an diesem Abend in Grenzen zu halten. Cyrille folgte ihr ins Innere des Hauses. Die Holztreppe war steil und nicht breit genug für zwei. Auf dem ersten Absatz stand vor einem verblichenen rosa Vorhang ein kleiner runder Tisch, an dem eine alte Dame, bekleidet mit einer Thaihose und einer blauen Bluse, das Geschäftliche erledigte. Sie begrüßte Cyrille, indem sie die Hände unter dem Kinn zusammenlegte, und zog den Vorhang zur Seite. Dahinter befand sich ein großer, schwach beleuchteter Raum, in dem auf einem verschlissenen Teppich zehn Matratzen nebeneinanderlagen. Entlang der Wand stand eine Bank, auf der zwei männliche Touristen warteten. Cyrille hätte gerne einen Rückzieher gemacht, aber die alte Dame versperrte ihr lächelnd den Weg.
Also zog sie ihre Schuhe aus und nahm neben den beiden Touristen Platz. Hinten im Raum waren Vorhänge zugezogen und verbargen zwei Kabinen, in denen die Masseure tätig waren. Die Szene wirkte surrealistisch und so ganz anders, als sie es erhofft hatte. Sie hatte von einer behaglichen Atmosphäre geträumt, um sich zu entspannen. Hier roch es nach billigem Monoi-Öl und nach Schweiß. Die Hände auf den Knien, betrachtete Cyrille die Wand vor sich, ohne zu wagen, Blicke mit den geduldig wartenden Fremden zu tauschen.
Sie fuhr sich über die Augen und gestand sich die Komik der Situation ein. Da saß sie nun, jeden Augenblick darauf gefasst, Jacques Brel rufen zu hören: »Au suivant! – Nächster bitte!« Ihre Zehen strichen über den abgewetzten Teppich, der an den im Zimmer ihrer Eltern in Caudry erinnerte. Sie schloss die Augen. Seit zehn Jahren lebte sie in einem goldenen Käfig, da Benoîts Stellung sie vor finanziellen Problemen bewahrte. Ihre zweihundert Quadratmeter große Wohnung mit Terrasse im siebten Arrondissement, »ihre« Klinik, ihre Wohnung in Saint-Jean-Cap-Ferrat, ihre Ferien in
Weitere Kostenlose Bücher