Begraben
hatte, war ohne Zweifel sein weltmännisches Auftreten. Solange er nicht zu viel über sich selbst sprach, war Benoît Blake ein gebildeter, redegewandter und angenehmer Mensch, der seine Zuhörer mit vielerlei Anekdoten über die verschlungenen Wege des Bewusstseins unterhalten konnte. Er war brillant, schlagfertig und charmant, er besaß eine fundierte Bildung und ein unfehlbares Gedächtnis. Das Rezitieren ganzer Passagen aus Schriften von Camus, Voltaire oder Paul Claudel war eines seiner Mittel, um ein langweiliges Essen mit einem Politiker zu beenden oder eine junge Forscherin mit schönen Augen zu betören.
Mit etwa fünfundvierzig Jahren befand sich der Wissenschaftler in einer Situation, in der er kaum noch jemandem Rechenschaft schuldig war, nicht einmal seiner Aufsichtsbehörde, die ihm freie Hand ließ, da ihm sein Ruf vorauseilte. Sein Privatleben war weniger glanzvoll. Seine Frau, die er in der Anfangszeit in Paris kennengelernt hatte, hatte ihm zwei Kinder geschenkt und ein Magengeschwür beschert. Nach ihren Schwangerschaften hatte sie ihre Arbeit als Geschichtsprofessorin nicht wieder aufnehmen wollen, was sie ihm für den Rest ihres gemeinsamen Lebens vorwarf. Wie konnten Paare in derart absurde Situationen geraten? Blake liebte schöne, intellektuelle Frauen, die in der Öffentlichkeit glänzten. Seine Frau hatte diesem Bild anfangs entsprochen, sich aber plötzlich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Blake hatte sie vergeblich gedrängt, ihre Universitätskarriere wieder aufzunehmen. Durch Verdrehung der Tatsachen und eine Böswilligkeit, derer, laut Blake, nur seine Exfrau fähig war, hatte sie ihm die Schuld dafür in die Schuhe geschoben. Absoluter Blödsinn.
Es war noch früh, und Benoît Blake schenkte sich einen weiteren Kaffee ein. Er sollte eigentlich keinen Kaffee trinken, schon gar nicht schwarz und gezuckert, aber die letzte Zeit, insbesondere der Vortag, hatten ihre Spuren hinterlassen, und er sagte sich, etwas mehr oder weniger würde an dem desolaten Zustand seines Magens auch nichts ändern. Nachdem er sein Frühstück beendet hatte, stand sein Entschluss fest.
Er war Cyrille vor zwölf Jahren begegnet, zu Beginn der spannendsten Phase seiner Forschungsarbeiten über die neuronalen Grundlagen psychischer Schmerzen, die seine Karriere krönen sollten. Damals hatte er verschiedene Posten und mehrere Ämter inne. So teilte er seine Zeit zwischen seinem Forschungslabor, in dem inzwischen dreißig Wissenschaftler beschäftigt waren, seinen Vorlesungen am Collège de France und an der Fakultät für Psychiatrie und dem wissenschaftlichen Beirat einer Zeitschrift für Neurowissenschaften auf.
Es wäre untertrieben, zu behaupten, Cyrille habe ihm sofort gefallen. An dem Tag, als sie am Ende einer Vorlesung im Audimax mit ihrem wippenden blonden Pferdeschwanz auf ihn zukam, um ihn schüchtern nach genaueren bibliografischen Angaben zu seinem letzten Werk zu fragen, hatte er gespürt, wie er dahinschmolz. Etwas in seinem Inneren brach auf und setzte eine helle Energie frei. Die Folge war schmerzlich gewesen. Innerhalb weniger Wochen hatte er sich in einen alten, verliebten Professor verwandelt, der sich elend fühlte. Sein fünfzig Jahre lang betäubtes Herz war an derartige Sprünge nicht mehr gewöhnt. Er hatte sich gequält wie ein empfindsames Kind und sich gefragt, warum dieses Verlangen nach ihr plötzlich alles beherrschte.
Da er nicht wusste, was er tun sollte, hatte er seine Stellung ausgenutzt. Er hatte zwei Studenten als Praktikanten genommen, darunter sie. Und ein paar Monate lang war Benoît wie ein verliebter Teenager morgens in sein Labor geeilt, ohne zu merken, dass seine Frau die Zeichen wohl verstand. Cyrille hatte die Wirkungsweise des Meseratrols unerhört schnell begriffen und den anderen Praktikanten weit überflügelt. Sie war unschlagbar auf dem Gebiet der Biochemie und hatte im Handumdrehen die Auswirkungen der verschiedenen Dosierungen, Zusammensetzungen und Manipulationen begriffen. Es fehlte ihr noch an Überblick und Erfahrung, aber Benoît erkannte sofort ihren klaren Forschergeist, der zwar noch nicht über die theoretischen Voraussetzungen verfügte, dafür aber über Intuition, und der originelle, ja fast revolutionäre Ideen entwickelte, um Hindernisse zu überwinden. Sie faszinierte ihn. Und sie widmete sich der Wissenschaft und ihrem Professor mit unschuldigem Eifer, ohne überhaupt zu merken, welche Macht sie über ihn besaß.
Das erste
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