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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Saint-Martin … Sie hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sondern nur zu gerne vergessen, dass es auch ein anderes Leben gab. Sie sah ihren Vater wieder vor sich, wie er, den Rücken gebeugt, an dem mit einem alten Wachstuch bedeckten Küchentisch saß und sich auf die Rennergebnisse in der Zeitung konzentrierte. Keine Musik, nur das Ticken der Uhr und der Geruch nach Eintopf.
    Nach ihrer Hochzeit mit Benoît hatte Cyrille die Tür zu diesem bescheidenen Haus hinter sich geschlossen und nie mehr zurückgeblickt. Sie hatte sich in die wohlhabende und elitäre Welt der Intellektuellen gestürzt und kehrte nur noch zweimal im Jahr nach Nordfrankreich zurück, um ihren Vater zu besuchen, ohne jedoch ihren Mann mitzubringen.
    Benoît. Sie sah ihn wieder am Flughafen vor sich, mit gerötetem Gesicht, die Spritze in der Hand. Was wollte er so verzweifelt vor ihr verbergen? Ihr Mann hatte ihr Mut gemacht und ihr einen Teil der finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, damit sie sich ihren Traum von der Klinik erfüllen konnte. Sie wusste, was sie ihm zu verdanken hatte. Im Gegenzug erwartete er von ihr die völlige Unterwerfung sowie ihre ständige Unterstützung, um sein Handicap auszugleichen.
    Als sie ihn im Audimax Charcot das erste Mal gesehen hatte mit seiner Ledertasche, seinem grauen Anzug, den Schultern eines Möbelpackers, dem schlecht gebändigten grau melierten Haar, seiner mürrischen Miene, seiner selbstsicheren Art und der schnellen Sprechweise, hatte sie sich gesagt, dass nur wenige Menschen sie bisher so stark beeindruckt hatten. Imponiert hatte er ihr durch seine Stattlichkeit, sein hervorragendes Französisch, die Treffsicherheit seiner Worte, die konzentrierte und überlegte Analyse von Problemen und natürlich durch alle Publikationen, die sie von ihm und über ihn gelesen hatte.
    Cyrille hatte sich einmal in den Bruder einer Kommilitonin verliebt. Sie erinnerte sich an ein realitätsfernes Gefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Nichts Konkretes. Als sie Benoît traf, hatte sie sich gesagt, dass nun ihr wirkliches Leben begann.
    Cyrille betrachtete ihre Fingernägel und seufzte. Innerhalb einer Woche war alles ins Wanken geraten. Ihr Mann belog sie, und sie hatte ihm soeben eine Falle gestellt, um ihn zu entlarven.
    Genau in diesem Moment vernahm sie aus weiter Ferne einen vertrauten Klang. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ihr Gehör spiele ihr einen Streich. Sie konzentrierte sich, die Augen geschlossen. Dann öffnete sie die Lider unvermittelt wieder. Ruhig Blut, nein, ich träume nicht. Der Vorhang hinten im Zimmer öffnete sich, und eine etwa fünfzigjährige Masseurin in Thaihose und rosa Korsage bedeutete ihr, dass sie an der Reihe sei.
    Ohne nachzudenken, sprang Cyrille auf, machte ihr ein Zeichen, dass sie gehen müsse, ignorierte den bösen Blick, den ihr die Alte zuwarf, und schlüpfte eilig in ihre Schuhe. Sie legte einige Baht auf den Tisch, murmelte eine Entschuldigung und rannte die Treppe hinunter.
    Auf der Straße blickte sie suchend nach rechts und nach links, um festzustellen, woher der Klang kam. Von links? Sie folgte ihrem Gehör, wie magisch angezogen von der Melodie. Sie hörte das Instrument immer lauter und näherte sich ihm.
    Eine kleine Gruppe Schaulustiger hatte sich um den Musiker gebildet. Sie reckte sich, um ihn zu sehen, doch er entzog sich ihrem Blick. Plötzlich entfernte sich ein Touristenpärchen, und zwischen zwei Köpfen konnte Cyrille den Akkordeonspieler erkennen. Youri hatte sich nicht verändert. Groß, knochig, scharf geschnittene Gesichtszüge und zotteliges, graumeliertes Haar. Er spielte, auf einem Klappstuhl sitzend, das weiße Hemd über einer weiten blauen Hose, an den Füßen seine alten Sandalen. Genau an derselben Stelle wie vor zehn Jahren. Am Boden wartete dieselbe Blechbüchse auf Geldstücke. Er spielte mit geschlossenen Augen ein Zigeunerlied, zog mit seiner Versunkenheit die andächtig lauschenden Zuhörer in seinen Bann. Cyrille rührte sich nicht vom Fleck. Sie wurde in rasendem Tempo in eine andere Zeit zurückversetzt. Die seither vergangenen Jahre schienen dahinzuschwinden. Intuitiv öffnete der Estländer die Lider und schaute in ihre Richtung. Ihre Blicke kreuzten sich einen Moment. Youri spielte weiter, ohne sie aus den Augen zu lassen. Forschte er in seinem Gedächtnis, wem dieses Gesicht, das ihm bekannt vorkam, gehören mochte? Schließlich lächelte sie ihn schüchtern an. Hatte er sie erkannt? Cyrille trat von einem

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