Begrabene Hunde schlafen nicht
passiert.«
Ihr Gesicht war hübsch geschminkt, aber keine Schminke der
Welt konnte verdecken, daß sie den Achtzig näher als den
Siebzig war. Das wohlfrisierte Haar lag wie Seide um ihren
Kopf.
»Es wird nichts passieren. Ich dachte nur, es ist so lange her,
daß ich in Oslo war und Zeit hatte, und …« Ich räusperte mich
bescheiden. »Je älter man wird, desto öfter erinnert man sich an
Menschen, die einem mal etwas bedeutet haben, und möchte sie
wiedersehen. Sie sind doch Merete Sjøwolds Mutter, nicht
wahr?«
»Doch, ja. Aber …« Sie trat einen Schritt zurück. »Nun gut.
Es hat keinen Sinn, hier draußen in der Kälte zu stehen. Kommen Sie lieber herein.«
Ich trat ein in einen Vorraum, dessen Wände aus demselben
Naturstein waren wie die Fassade. Ein großer, mit Schiefer
umrahmter Spiegel zeichnete uns wie zwei Gespenster, blaß und
fahl im grellen Morgenlicht.
»Sie können hier drinnen ablegen. Wie, sagten Sie noch, ist Ihr
Name?«
»Veum. Varg Veum.«
»Na. Also ich muß sagen, ich kann mich nicht erinnern, daß
Merete Sie einmal erwähnt hätte.«
»Nein, wir – ich war nur ein Jahr hier. Während des Studiums.
Von 1964 bis 1965.«
»Kommen Sie hier herein. Was haben Sie studiert?«
»Jura.«
»Ach, Sie sind Anwalt?«
In dem Wohnzimmer, das wir betraten, hätte selbst Hoffsjef
Løvenskiold sich klein gefühlt. Man konnte eine Polonaise darin
tanzen, fünf Minuten in jede Richtung, wenn man nicht über die
persischen Teppiche stolperte, die sehr ausgewogen über die
Landschaft verteilt lagen. Die Einrichtung war gediegen bis
pompös. Die Bilder an den Wänden, alle in vergoldeten Rahmen, waren von so berühmten Künstlern gemalt, daß sogar ich
sie wiedererkannte. Es waren sowohl Norweger wie Ausländer,
von Tidemann und Gude bis Weidemann und Nedrum und von
Goya bis van Gogh: eine nicht zu kleine Nasjonalgaleri en
miniature.
Sie folgte zufrieden meinem beeindruckten Blick. »Mein
Mann übernahm den Weinhandel der Familie. Ich wage zu
behaupten, daß wir einige der besten Marken im Land vertraten.«
»Das kann ich fast sehen. Ist es lange her, daß Sie – allein
zurückblieben?«
»Dreizehn Jahre. Ich habe Merete und Henrik mit zehn Jahren
Abstand verloren.«
»Äh, verloren – Merete?«
»Ja, wußten Sie denn nicht? Aber setzen Sie sich doch …
Sehen Sie, dies war der Lieblingssessel meines Mannes am
Nachmittag, zum Kaffee.«
Ich setzte mich in den Sessel, den sie mir zuwies. Ein Restaurator hätte ihn zweifellos als Louis-seize oder so ähnlich
identifiziert. Ich selbst verspürte jedenfalls das dringende
Bedürfnis nach einigen weiteren Revolutionen, wenn ich ihn nur
ansah.
Sie nahm im Sessel neben mir Platz. »Meine Tochter ist tot,
wissen Sie. Sie kommen also viel zu spät, wenn sie es war, die
Sie treffen wollten, Herr Veum.«
»Tot? Aber ich verstehe nicht …«
»Wann, sagen Sie, waren Sie zuletzt in Oslo?«
»Tja, vor einiger Zeit, wie gesagt, vor fast zehn Jahren etwa,
sonst gab es nur ein paar schnelle Zwischenlandungen, auf der
Durchreise.«
»Und Sie haben nicht die Aftenposten abonniert?«
»Nein, wir, äh, wir haben da drüben unsere eigene Tratschtante.«
»Sie kommen aus Bergen, wie ich höre?«
»Ja.«
»Mein Mann hatte viele Geschäftsverbindungen nach dort
unten.«
»Ach ja?«
»Aber dann ist es ja auch kein Wunder, daß Sie die Todesanzeige nicht gelesen haben.«
Sie erhob sich aus dem Sessel, durchquerte den Ballsaal und
holte eine gerahmte Fotografie von einem Sekretär am anderen
Ende des Raumes. Sie kam langsam zurück und reichte sie mir
ohne weiteren Kommentar.
Ich betrachtete die Fotografie. Sie zeigte ein Brautpaar, Die
Braut war unzweifelhaft die Merete, die ich von 1965 her
kannte. Der Bräutigam war einige Jahre älter als sie, mit einem
kraftvollen, fast überreifen Gesicht, ein Eindruck, der von der
markanten, schwarzen Hornbrille mit den sehr dicken Gläsern
noch unterstrichen wurde. Er hatte dunkles, volles, nach hinten
gekämmtes Haar und trug einen Smoking. Entsprechend die
Braut: in einem übertrieben üppigen Brautkleid.
In eine Ecke des Rahmens war eine Todesanzeige gesteckt, ein
vergilbter Ausschnitt aus Aftenposten von vor drei Jahren:
Meine einzige Tochter
MERETE LOEWE
geb. Sjøwold
ist im Alter von 45 Jahren plötzlich von mir gegangen.
Stockholm/Oslo, 10. Juli 1989.
Die Beisetzung hat stattgefunden.
Snefrid Sjøwold
»Hm.« Ich sah wieder auf das Foto. Die Farben waren leicht
verblichen; ihr Haar
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