Begrabene Hunde schlafen nicht
sah eher kastanienbraun aus als rot. Daß sie
es war, mit der ich ein paar hektische Stunden verbracht hatte,
an einem Aprilabend mitten in den Sechzigern, das hätte ich
schwören können. Aber daß es dieselbe Frau war, der ich vor
ziemlich genau vierundzwanzig Stunden Auge in Auge gegenübergestanden hatte, dessen war ich mir gar nicht mehr so sicher.
Ich hob das Bild hoch, als würde ich seinen Wahrheitsgehalt
wiegen, und fragte: »Wann war das?«
»Die Hochzeit? 1972.«
»Und ihr Mann hieß …«
»Fredrik – Loewe. Der Großindustrielle«, fügte sie hinzu, als
würde das alles erklären.
»Und sie haben in Stockholm gewohnt?«
»Ja. Fredriks Hauptfiliale lag in Solna, direkt vor der Stadt.«
»Und welcher Industriezweig war das?«
»Waffen und Munition. Warum fragen Sie das alles?«
»Tja, ich habe mich nur gewundert … Ihr Mann ist nicht
erwähnt in der Todesanzeige …«
»Merete war Witwe. Fredrik kam ein Jahr zuvor ums Leben,
bei einem Autounfall.«
»Das tut mir leid. Und Merete, woran ist sie …?«
Sie unterbrach mich in deutlich schärferem Ton: »Sie ist nie
darüber hinweggekommen. Sie wurde krank – an Leib und
Seele!«
»Ich …«
»Und ich will kein Gerede mehr darüber!« Sie hatte jetzt
klitzekleine, kristallklare Diamanten im Blick, und auf beiden
Wangen blühten dunkelrote, hitzige Rosetten.
Ich versuchte, so mitfühlend wie möglich auszusehen. »Es ist
selbstverständlich dumm von mir zu fragen …«
»Ja, das ist es!«
»Was denn?«
»Egal, was Sie mich fragen!«
»Aber – etwas verwirrt mich. Der Grund, warum ich Sie hier
heute aufgesucht habe, in dieser Form, Frau Sjøwold, ist …«
»Ja? Reden Sie, Mann!«
»Sie sind ganz sicher, daß Ihre Tochter tot ist?«
Sie sah mich mit blinder Wut im Blick an. Die dünnen Finger
schlossen sich um den Sicherheitsalarmknopf. Sie war kurz
davor zu klingeln. »Selbstverständlich bin ich sicher! Haben Sie
die Todesanzeige nicht gelesen? War ich etwa nicht in Stockholm und habe sie begraben? Liegt sie etwa nicht da drüben, in
fremder Erde?« Sie sah hinaus durch die großen Fenster, als läge
das Grab der Tochter direkt davor. Aber alles, was sie sehen
konnte, waren die Bäume im Garten, noch grün, aber ein paar
schon geschmückt mit goldenen Pailletten.
»Ich wollte Sie nicht so aufregen, Frau Sjøwold. Es ist nur so –
ich bin einer Person begegnet, hier in Oslo, gestern, die war ihr
so … die hat mich so an Ihre Tochter erinnert.«
Die Diamanten waren geschmolzen; jetzt rannen sie in schmalen Streifen aus beiden Augen. Ihre Stimme war fast unhörbar.
»Merete ist tot, Herr Veum. Verstehen Sie kein Norwegisch? Sie
ist tot.«
Ich sah sie an. Es war Sternenfee, die bereute, daß sie nicht
geblieben war, wo sie war; Sternenfee, die sich nach dem Land
zurücksehnte, in dem nie jemand nein sagte und wo der Tod nur
ein Spiel war, eine falsche Drohung von Kapitän Hook.
Ich ging meines Weges, mit tiefstem Bedauern und dunklem
Gewissen. Ich hatte sie zum Weinen gebracht, und so alt, wie sie
war, gefiel mir das nicht.
Aber ich konnte auch schlecht einen Witz reißen beim Gehen.
Ich glaube, dafür hatte man nicht viel Sinn im Hotfsjef
Løvenskiolds Vei.
12
Als hätten sich die Naturkräfte mit den Einheimischen verbündet, um mich rauszuschmeißen, schwemmte mich ein kräftiger
Regenschauer den Hoffsjef Løvenskiold Vei hinunter.
Es regnete hier anders als in Bergen. Im Vestland gießt es
entweder wie aus Kübeln von ungeahnten Ausmaßen, oder der
Regen kommt als weiches Streicheln auf der Haut, eine leise
Dusche aus den paradiesischen Gefilden irgendwo über den
Wolken.
In Oslo schnitt er sich wie stumpfe Rasierklingen durch die
Haut, zeichnete Froststreifen über das Gesicht und ließ die
Haupt prickeln wie nach einem Tränengasangriff. Es war etwas
Verschämtes und gleichzeitig Ungehobeltes am Osloer Regen,
als könnten die Wettergötter nicht dazu stehen, daß sie auch
über der Hauptstadt ein paar Tropfen fallen ließen, hier und da,
und als täten sie es deshalb hastig und brutal.
Ich suchte an der Haltestelle Åsjordet Zuflucht und wartete auf
den Zug, der in Richtung Innenstadt fuhr. Von den glänzenden
Rollbahnen unten in Fornebu starteten die Flugzeuge mit
dunklem Brummen und kräftigem Gegenwind in den starken
Regen. Auf der anderen Seite der Ullernchaussee, wo der sich
stauende Verkehr dröhnte, erhob sich der standfeste Turm der
Ullern-Kirche wie ein Wachposten über den Stadtteil, eine
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