Begrabene Hunde schlafen nicht
Glöckners von
Notre-Dame. Als ich vorbeiging, lächelte er mir freundlich zu,
als würde er mich mit Freuden in der Herde willkommen heißen.
Für den Moment lehnte ich dankend ab.
Ich hatte andere Sorgen.
In der Urtegate vergewisserte ich mich, daß das Haus, in dem
ich am Tag zuvor mit Torleif Pedersen gewesen war, das
richtige war. Ich ging in den ersten Stock, um herauszufinden,
ob Grorud Inkasso A/S wiederaufgetaucht war, wie ein Vexierbild, das nur dann sichtbar wird, wenn die Sonne in einem
bestimmten Winkel darauf fällt. Aber die Tür zu den Räumen
war noch immer völlig anonym, und als ich klopfte, öffnete
niemand.
Auf dem Weg nach unten begegnete ich einem kleinen, dunkelhäutigen Jungen, der, eine hellblaue Schultasche auf dem
Rücken, mit rasender Geschwindigkeit die Treppe hinaufstürmte.
»Hei«, sagte ich und lächelte. Er sah mich scheu an und rückte
ganz an die Wand, wie um mir zu versichern, daß er mir nicht
im Weg sei.
»Wohnst du hier?«
Er nickte stumm.
»Wie heißt du?«
»R-R-Rhamid«, sagte er und sah ängstlich zu mir auf.
Ich lächelte wieder. »In welche Klasse gehst du?«
»Die dritte, in der Lakkergate.«
»Du sprichst gut Norwegisch.«
»Ich bin Norweger!«
»Gut. Ich wollte dich fragen, diese Leute, die im ersten Stock
ein Geschäft haben – kennst du sie?«
»Ein Geschäft? Du meinst eine Firma?«
»Äh, ja.«
»Da ist keine Firma. Und da wohnt auch keiner.«
Ich zögerte. »Aber am Mittwoch war da so was wie eine
Firma.«
Er sah mich ernst an. »Ja, ich hab’ das Telefon drinnen klin
geln hören, aber ich dachte …«
»Ja?«
»Der gr-große Mann. Das ist der, der ab und zu dahin kommt.
Aber er hat keine Frau. Er hat …« Er sah zur Seite.
»Er hat da Frauen!« Plötzlich brach sein Gesicht auf, in einem
großen, blitzenden Lächeln. »Wir können sie hören, durch die
Wand!«
Ich nickte und lächelte wie ein Vertrauter. »Aber, Rhamid, du
weißt nicht, wie der große Mann heißt?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein.« Dann lächelte er verschmitzt. »Schwarzer Peter vielleicht?«
Ich suchte in meinen Taschen und zog ein Zehnkronenstück
heraus. »Hier. Danke dir. Kauf dir was, worauf du Lust hast.«
Er sah mit großen Augen auf die Münze. »Ein Fahrrad!«
»Ich fürchte, dafür wirst du noch ein bißchen sparen müssen.«
Er lächelte begeistert. »Ja, aber das tu’ ich auch! Ich habe bald
zweihundert Kronen!«
»Mach’s gut, Rhamid.«
»Tschüs!« Er lief weiter nach oben, das Zehnkronenstück fest
mit der Hand umschlossen, als hätte er Angst, ich würde es ihm
wieder wegnehmen.
Ich trat wieder auf die Straße. Als ich sie überquerte, ungefähr
bei der diskreten Moschee, hörte ich ein Auto starten.
Ich drehte mich halb um. Ein roter Ford mit Rostflecken,
Baujahr Anfang der Achtziger, glitt an mir vorbei. Darin saßen
vier dunkelhäutige Jugendliche, und hinter der Heckscheibe
hing ein Fuchsschwanz. Keiner von ihnen sah in meine Richtung, und der Wagen bog nach links ab, in Richtung Tøyen.
Als ich die Vaterlands Bru überquerte, fuhr dasselbe Auto
wieder vorbei, aber jetzt saßen nur noch zwei Leute darin.
Instinktiv drehte ich mich um. Zweihundert Meter hinter mir
erblickte ich zwei Jugendliche in Lederjacken und mit dunklen
Gesichtszügen, die in meine Richtung kamen. Es konnte Zufall
sein, natürlich. Aber ich hatte keine Lust, stehenzubleiben und
sie zu fragen.
Ich erhöhte mein Tempo. Bei der Lykkeberggate drehte ich
abrupt zur Storgate ab, überquerte sie fünf Meter hinter einer
Straßenbahn und zwanzig Zentimeter vor einem Taxi, woraufhin
der Fahrer den Kopf aus dem Fenster streckte und mich im
Vorbeifahren einen Idioten schimpfte – fünf Sekunden später.
Ich widersprach ihm nicht.
Ich huschte in die Operapassasje und beschleunigte noch
einmal auf dem Weg zum Youngstorg, sauste in die Torggate
und lief kreuz und quer durch das Straßennetz nach Hammersborg hinauf.
Ich lief zur Rückseite der Deichmanske Bibliotek, wo ich
stehenblieb und mich unter den dorischen Säulen verschnaufte.
Die leeren Flaschen, abgebrannten Streichhölzer und plattgetretenen Zigarettenkippen um mich herum verrieten, daß hier öfter
Leute rasteten.
An jeder Ecke hatte ich mich umgesehen, und ich war mir
ziemlich sicher, daß mir im Augenblick niemand auf den Fersen
war. Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß das
auch stimmte, ging ich langsam zum Arne Garborgs Plass
hinunter, an der Baustelle des neuen
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