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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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Krankenhaus lag?«
    Und Annemiek, so klein sie auch war, begriff genau, was er meinte: »Seit dem Unfall haben sie sich fast nicht mehr gestritten.«
    »Ehrlich?«
    »Wirklich!«
    Beers Hände glitten am Bücherregal entlang.
    »Das hat Vater gebaut.«
    »Ja, ich weiß.«
    Aber in Beers Kopf spukten viele Fragen, auf die er noch keine Antwort wusste. »Weißt du, was mit mir passieren soll? Kann ich wieder zur Schule? Oder . . . oder muss ich in eine Blindenanstalt?«
    Annemiek zuckte mit den Schultern, aber da ihr Bruder das nicht sehen konnte, antwortete sie schnell: »Das weiß ich nicht.«
    »Hast du nichts darüber gehört?«
    Annemiek zögerte kurz, ganz kurz nur. Dann kam die Notlüge: »Nein . . .«
    Annemiek musste schwindeln, weil über diese lebenswichtige Frage noch keine Einigkeit in der Familie bestand.
    Als Vater und Mutter kamen, um Gute Nacht zu sagen, lag Beer schon im Bett. Annemiek wurde mit einer Kopfbewegung in ihr eigenes Zimmer geschickt.
    »Es ist herrlich, dass wir dich wieder zu Hause haben«, sagte Mutter, während sie die Decke zurechtschob, die an einer Stelle über den Bettrand hing.
    »Was soll nun mit mir passieren?«
    »Zuallererst musst du die Blindenschrift lernen, Beer. Am Anfang wird es dir hoffnungslos vorkommen. Aber du wirst sehen, im Laufe der Zeit nehmen deine Finger die Buchstaben genauso auf, wie es deine Augen getan haben.«
    »Kann ich auf der Schule bleiben?«
    So, die alles beherrschende Frage war heraus. Gespannt wartete Beer auf die Antwort. Er hatte das Gefühl, mit dieser Antwort würde über seine ganze weitere Zukunft entschieden.
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Vater vorsichtig. »Wir müssen noch gründlich überlegen, was für dich das Beste ist.«
    »Habt ihr schon mit dem Direktor gesprochen?«
    »Ja.« Wieder war es Vater, der antwortete. »Er meinte, ein blinder Schüler sei eine zu schwierige Aufgabe für die Lehrer. Er wusste nicht, ob es die Lehrbücher, die ihr benützt, auch in Blindenschrift gibt. Kurz und gut, er sah eine Menge Schwierigkeiten.«
    »Oh . . .« Beers Angst nahm wieder zu.
    Dann hörte er Mutters Stimme: »Junge, du hattest zu Ostern ein hervorragendes Zeugnis. Wir werden uns ganz toll anstrengen, um nachzuholen, was du in den vergangenen Wochen versäumt hast. Und dann werden wir den Direktor überzeugen, dass du kein Problem für die Schule sein wirst.«
    »Ich kapier schon«, murmelte Beer. »Die meisten Schulen wollen keine Wracks, stimmt’s? Das meinst du doch?«
    »Wir werden der Schule zeigen, dass du kein Wrack bist«, sagte Mutter mit großer Überzeugungskraft.
    Beer nickte. Das war ihm aus dem Herzen gesprochen. Um ganz sicher zu sein, fragte er: »Muss ich in eine Blindenanstalt?«
    »Beer«, sagte Vater mit einer Stimme, die sehr verwundbar klang. »Du bist gerade erst nach Hause gekommen. Das Allerwichtigste ist, dass du dich erholst und deine Kräfte wiedergewinnst. Dann werden wir gemeinsam überlegen, was das Beste für dich ist.«
    »Auf jeden Fall strengen wir uns mächtig an,damit du in deiner alten Klasse wieder mitkommst.«
    Beer merkte, dass Mutter ihn bei diesen Worten zudeckte, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte.
    »Jetzt schlaf erst mal. Es war ein furchtbar anstrengender Tag für dich.«
    Er bekam einen Gutenachtkuss, als sei er wieder genauso alt wie Annemiek.
    »Es war ein schöner Tag«, sagte Beer. »Ich dank euch für alles!«
    Vater und Mutter gingen die Treppe hinunter. Die Wohnzimmertür ging zu. Deutlicher als je zuvor hörte Beer die Geräusche des Hauses: das Knarren der Treppe, das Klappern eines Fensters, das leise Summen des Kühlschranks in der Küche. Ein Moped knatterte die still gewordene Straße entlang.
    Wieder zu Hause!

5
    »Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!«
    Fluchend schlug Beer mit der geballten Faust auf den Tisch. Seine ungelenken, noch wenig geschickten Finger konnten die Arbeit der Augen noch nicht leisten. Diese verdammte Schreibmaschinehatte fünfzig Tasten und die Buchstaben standen furchtbar unordentlich durcheinander: das a neben dem s, das c neben dem v.
    Mutter saß neben ihm. Sie war Sekretärin gewesen und wusste, wie man blindschreiben lernen musste. Immer wieder hatte sie Beers Hände auf den Tasten geführt.
    »Wenn ich doch nur ein Mal, ein einziges Mal sehen könnte, wo die Buchstaben sitzen«, sagte Beer mit verzweifelter Stimme.
    »Hab ein bisschen Geduld bitte. Es geht nicht auf Anhieb.«
    Geduld! Mutter hatte natürlich recht. Er

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